Interview mit Jörg Hartmann

21.03.2024

“Legt die Handys weg und schnappt euch wieder mehr Bücher!”

Welche Dinge haben bei der Niederschrift Ihres Lebens große Überwindung gekostet und bei welchen mussten Sie schmunzeln?

Der Anlass war der Tod meines Vaters, die Trauer darüber und das schwer erträgliche Gefühl, dass mit ihm seine Geschichte und die seiner Eltern komplett verschwinden könnte, wenn ich sie nicht aufschreibe. Sicher war das Schreiben auch eine Form der Bewältigung, Verarbeitung, ich musste es einfach tun. Auf jeden Fall wurde dadurch ein Prozess losgetreten: Woher komme ich? Was hat mich geprägt? Wie und wo verorte ich mich in dieser Welt, wie sehr bin ich ein Kind meiner Zeit? Und so begann eine Reise in die eigene Vergangenheit und in die der Familie.

Wie lange hat das Projekt von der Idee bis zur Veröffentlichung gedauert?

Nach dem Tod meines Vaters haben die Erinnerungen stetig in mir gearbeitet, und ich habe sie gesammelt. Das eigentliche Schreiben dauerte vielleicht anderthalb Jahre, aber das war natürlich nie ein durchgehender Prozess, Familie und das Schauspielen erzwangen naturgemäß viele Unterbrechungen.

Sie wuchsen im Ruhrgebiet auf, Ihr Vater war Dreher und Handballer, Ihre Mutter betrieb zeitweise eine Pommesbude. Inwieweit haben Ihre Familie, Kindheit und Jugend Ihre kreative Karriere als Theater- und Filmschauspieler und jetzt als Autor beeinflusst?

Ich habe schon früh extrem viel gezeichnet, später dann auch gemalt, war aber eher, was das betraf, das Kuckucksei in der Familie. Nun gut, mein gehörloser Großvater hatte eine künstlerische Ader, hat Spielzeuge gebaut, konnte gut zeichnen. Ansonsten gab es keine Vorbilder, auch nicht eine bewusste Förderung seitens der Eltern. Aber – und das finde ich das Entscheidende – meine Eltern hatten mir immer den Raum gegeben, mich darin ausleben zu können, hatten mir immer das Gefühl vermittelt, dass sie gut finden, was ich mache, und an mich glauben. Ich konnte mich in meine Fantasie verkriechen und wurde nicht hinterfragt deswegen. Und ja, mein Vater hatte nie Hemmungen vor vielen Leuten seine Späße zu machen, er kannte da nix. Wenn man so will, war durch ihn der Drang Richtung Rampe zumindest etwas vorgegeben.

Welche Dinge haben bei der Niederschrift Ihres Lebens große Überwindung gekostet und bei welchen mussten Sie schmunzeln?

Ich muss immer wieder schmunzeln, wenn ich lese, wie ich mit einem Kumpel dem großen Schauspieler Thomas Holtzmann vor den Münchener Kammerspielen auflauere und wir den armen Mimen belagern und belabern, damit er mit uns an einer Szene aus Goethes »Clavigo« arbeitet. Auch mein Ringen darum, in einer anderen Theaterszene ein Mettbrötchen auf die richtige Art und Weise zu essen – beides nur, um an der Berliner Schaubühne zu landen –, macht mir immer wieder Spaß.

Bei der Niederschrift selbst musste ich mich eigentlich nie überwinden, auch nicht bei den ernsten, traurigen oder womöglich peinlichen Momenten, denn ich saß ja in meinem stillen Kämmerlein und schrieb es für mich, niemand hatte Einblick. Ich dachte in jenen Augenblicken nicht an eine Öffentlichkeit. Als dann die Entscheidung gefallen war, den Text als Buch herauszugeben, wurde mir immer wieder mulmig zumute, natürlich, allerdings habe ich so sehr am Text gefeilt, am Rhythmus der Sätze, ihn bei aller Ehrlichkeit in eine Kunstform gebracht, dass er sich verselbstständigte und eine Ebene der Übertragbarkeit bekommen hat, eine Art Distanz. Wahrscheinlich ist das ein normaler Prozess beim Schreiben. Alles im Text ist mir wahnsinnig vertraut, logisch, und zugleich hat er sich auf wunderbare Weise vom Erlebten gelöst und ein Eigenleben begonnen.

Sorgten Sie sich je, zu viel über sich oder Ihre Nächsten zu offenbaren?

Es war nie meine Absicht, jemanden vorzuführen, und ich hoffe, dass das auch niemand so empfinden wird. Aber natürlich bleibt manchmal die Sorge, etwas übersehen zu haben. Allerdings kann man nur mit einer großen Portion Ehrlichkeit schreiben, und ich glaube, die Leserinnen und Leser würden sofort spüren, wenn da jemand mit angezogener Handbremse eine Geschichte erzählt. Was sollte ich machen? Es war ein innerer Drang, ich musste es aufschreiben.

An welchem Punkt des Schreibens wussten Sie, dass Sie aufhören können, da Ihr Buch sein Ende gefunden hat?

Als ich den Bogen zum Heute geschlossen, die Fäden und Themen zusammengeführt hatte. Und ich wusste, ich möchte mit den Kindern enden. Mit der Andeutung davon, dass es weitergeht. Ein offenes Ende, zugleich eine Art Ausblick ‒ mit etwas Tröstlichem in diesen schwierigen Zeiten. Zudem wollte ich darstellen, dass alles irgendwie zusammenhängt: die Generationen, die Erinnerungen und das Jetzt. Die Gleichzeitigkeit der Dinge.

Letztes Jahr nahmen Sie am Vorlesetag in Potsdam teil und überraschten Tramfahrgäste mit einer Lesung in der Bahn. Ist die Leseförderung ein Herzensprojekt von Ihnen?

Das wäre vielleicht etwas zu weit gegriffen, aber ja, ich liebe das Lesen. Ich bin eine Leseratte, ein Leben ohne Bücher wäre für mich schwer vorstellbar. Wie Bücher einen prägen, begleiten, ja sogar verändern können, ist eine Erfahrung, die ich jedem Menschen gönne. Ich kann nur jeden aufmuntern und sagen: Legt die Handys weg und schnappt euch wieder mehr Bücher!

Was lesen Sie gerne? Was ist Ihr aktuelles Lieblingsbuch?

Es gibt sehr viele Bücher und Autoren, die mich begeistern. Und wie viele, die ich erst noch entdecken darf! Ich bin ein großer Fan von Ian McEwan und Jonathan Franzen. Virginia Woolf ist immer wieder ein Ereignis. Mein aktu- elles Lieblingsbuch? Es gibt viele gute. »Das achte Leben (für Brilka)« von Nino Haratischwili fand ich ganz toll, zuletzt »Baumgartner« von Paul Auster, »Das Liebespaar des Jahrhunderts« von Julia Schoch, »Tyll« von Daniel Kehlmann, »Hundert Jahre Einsamkeit« von García Márquez, Gustave Flaubert in der Übersetzung von Elisabeth Edl, »Der Große Gatsby« in der Übersetzung von Bettina Abarbanell und, und, und.

Wo kaufen Sie Ihre Bücher?

In der Regel in der Buchhandlung meines Vertrauens, aber wenn ich unterwegs bin und mich irgendwo ein Buch anlächelt, kann ich meist nicht widerstehen und muss zuschnappen.

Haben Sie schon Ideen für ein neues Buchprojekt?

Ideen, ja. Aber sind es auch Ideenkeime, wie Patricia Highsmith sie nennt, aus denen ein ganzes Buch wachsen kann? Bei einem Roman sollte man sich da ziemlich sicher sein, schließlich erfordert solch ein Unternehmen mehr Lebenszeit als ein Vierzeiler. Wir werden sehen, was die Zukunft bringt.

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Jörg Hartmann gehört zu den bedeutendsten deutschen Charakterdarstellern. Nach seiner Schauspielausbildung und verschiedenen Theaterengagements wurde er 1999 Ensemblemitglied der Berliner Schaubühne. Fernsehproduktionen wie »Weissensee« oder der Dortmund-Tatort, in dem er Kommissar Faber spielt, machten ihn einem breiten Publikum bekannt. Jörg Hartmann, der mit seiner Familie in Potsdam lebt, wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Fernsehpreis, der Goldenen Kamera und dem Grimme-Preis.