Epische Familiengeschichte um 1900 in Lübeck

Wir sprachen mit der Buchpreisträgerin Inger-Maria Mahlke über ihren neuen Roman »Unsereins«.



Was waren Ihre Beweggründe, den Roman in Lübeck anzusiedeln?
Ich bin in Lübeck aufgewachsen, das ist gleichbedeutend mit: Buddenbrooks in der Schule, zu Weihnachten im Fernsehen, auf Kekspackungen und als Kühlschrankmagnet. Teil des Mythos ist, es sei ein Schlüsselroman, die Frage nach dem historischen Kontext hat sich daher aufgedrängt. Und: Wer waren eigentlich Hagenströms, die Buddenbrook'schen Gegenspieler? Wie haben sie das Erscheinen des Romans erlebt? Was ist ihre Geschichte? »Unsereins« ist der Versuch einer Antwort. Schnell war klar, dass es nicht nur um politische Intrigen in einem einst mächtigen, oligarchischen Kleinstaat gehen würde, sondern um gesellschaftliche Zuschreibungsprozesse und deren Internalisierung. Um Antisemitismus. Um Klassengesellschaft, Industrialisierungsfolgen, sich radikalisierendes Bürgertum, die Dienstbotenperspektive. Um scheiternde Ehen, frühe Formen der Paartherapie, überforderte Eltern, Yokohama während des japanisch-russischen Krieges, Syphilis, das Bankmilieu in London kurz vor der Jahrhundertwende, um einen vergessenen Aufrechten der frühen Sozialdemokratie. Und vieles mehr.

Sie zeigen in Ihrem Roman die Verhältnisse verschiedener sozialen Klassen auf. Wie und wo haben Sie dazu recherchiert?
Neben der einschlägigen Sekundärliteratur – Kaiserreich, Arbeiterbewegung, Thomas Mann, Antisemitismus – habe ich mich in erster Linie durch tausende Seiten Sütterlin gearbeitet. Einige Figuren sind an historischen Personen angelehnt, deren Briefwechsel, Notizen, Lebenserinnerungen, Geschäftsberichte werden als Nachlässe überwiegend im Lübecker Stadtarchiv und im Staatsarchiv in Hamburg verwahrt.

Erzählen Sie diesen Roman auch rückwärts wie »Archipel«?
Nein, normal vorwärts, die erzählte Zeit sind sechzehn Jahre, von 1890 bis 1906. Eine spannende Umbruchphase, der Beginn des schwierigen Wegs der wilhelminischen Untertanen in die Moderne.

Gibt es eine Familie aus dem 21. Jahrhundert, deren Geschichte Sie fasziniert und die Sie sich für einen neuen Roman zu verwenden vorstellen können?
Eine Kritik des Spätkapitalismus anhand einer dysfunktionalen Medien-Dynastie hat die Serie »Succesion« fürs erste leider schon wunderbar abgedeckt.

Haben Sie eine Lieblingsfamiliensaga?
Natürlich und unausweichlich: Joseph Roth »Radetzkymarsch«. Zadie Smith: »Von der Schönheit«, wenn man Familiensaga weit fasst. Und, auch wenn ich in politischer Hinsicht vieles anders sehe als der Autor: »Die Korrekturen« von Jonathan Franzen.

Wenn Sie selbst die Werbetrommel für Ihr Buch rühren müssten, wie würden Sie es unseren Leser:innen beschreiben?
Werbetrommel, nicht meine große Stärke. Es geht mit den Buddenbrooks in Richtung Faschismus. Klingt nicht so gut? Es geht auch um Liebe, manchmal sogar glückliche. Und Emanzipationsversuche, manchmal sogar erfolgreiche. Und manchmal soll es lustig sein, habe ich gehört.

Was verbinden Sie mit Lübeck?
Tutende Nebelhörner beim Aufwachen im November. Regennasses Kopfsteinpflaster. Schluckauf vom Wind. Quallensammeln in der Ostsee. Vernünftiges Lakritz.

Verraten Sie uns Ihre Lübecker Lieblingsorte?
Die Wiese vor dem Tor der Hoffnung, am Ufer der Wakenitz im Drägerpark. Von dort hat man den schönsten Blick auf die Stadt, die Silhouette aller Kirchen wie auf den Niederegger-Marzipan-Packungen. Abends geht hinter den Türmen die Sonne unter, im Sommer kann man in der Wakenitz baden, im Winter mit Blick auf Backstein-Gotik und -Romanik Schlittschuh laufen. Und: Sämtliche der erhaltenen alten Gänge und Höfe, früher Ort größter Armut, heute pittoreske Idylle. Insbesondere der Bäcker-Gang und seine »Hobbit«-Tür.

Wo kaufen Sie Ihre Bücher? Haben Sie eine lokale Lieblingsbuchhandlung?
In Berlin die Akazienbuchhandlung in der Akazienstraße, in Lübeck Prosa - Der Buchladen in der Dr.-Julius-Leber-Straße.

Vielen Dank für das Gespräch.





Unsereins
Inger-Maria Mahlke
Rowohlt
Gebunden, 496 Seiten
€ 26,-