
New York
Die wenigsten kommen noch mit dem Schiff, wie der nach Amerika verstoßene Karl Roßmann in Kafkas „Heizer“-Fragment (1913), der bei der Einfahrt in den Hafen von New York die „Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht“ erblickt und dabei ihren „Arm mit dem Schwert“ anstatt mit der Fackel zu sehen vermeint; aber „um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte“, und das ist noch immer so. Die meisten kommen heute mit dem Flugzeug, und ihr Ziel ist zumeist, vom Flughafen „John F. Kennedy“ aus, die
Insel Manhattan zwischen Hudson und East River, mit 1,6 Millionen Einwohnern, als einer von fünf Bezirken
der 8-Millionen-Weltstadt New York, bereits eine Metropole für sich. Im „Hochhauskaktus Manhattans“ (Uwe Johnson) kann man aber auch mit der Eisenbahn ankommen, etwa in der Grand Central Station, so wie das Liebespaar Jan und Jennifer in Ingeborg Bachmanns zeitlosem Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“ (1958). Alles ist in der weiträumigen Halle des größten Bahnhofs der Welt noch immer so nobel wie einst bei der Eröffnung 1913. Aus der feudalen Halle hat man es nicht weit zur benachbarten Lexington Avenue, wo sich der Hauptschauplatz der tragischen Liebesgeschichte, das Atlantic Hotel, zwar nicht mehr auf Anhieb unter diesem Namen finden lässt, aber da die Auswahl an Gebäuden mit 57 Stockwerken dort noch immer groß ist, kann man sich eines der älteren Hotels aussuchen.
Ob der Name Manhattan, abgeleitet vom indianischen Wort Ma-na-ha-ta, nun „himmlische Erde“ bedeutet, wie es in Bachmanns Hörspiel heißt, oder „hügeliges Land“, wie andere Quellen wissen, kann offen bleiben. Als Peter Minuit aus Wesel am Niederrhein um 1620 den Algonkin-Indianern ihr Land für ein paar Gulden abkaufte und zur schwedischen Kolonie erhob, übernahm bald darauf der niederländische Gouverneur Peter Stuyvesant das Kommando und benannte den Ort am Südzipfel der Insel in Nieuw Amsterdam um; doch seine Schutzmauer gegen Indianerüberfälle (die Wall Street erinnert noch daran) wurde 1664 von den Engländern überrannt, und seither heißt nicht nur die fünfteilige „Stadt der Städte“ (Bachmann), sondern auch der Bundesstaat nach der „county town“ York im englischen Yorkshire.
Märchen im Central Park
Ein Fixpunkt im rechtwinkligen Straßensystem des neuen Babylon ist der Central Park, der seit 1858 zur Erholung einlädt. Ein wenig hat man sich dafür den Englischen Garten in München zum Vorbild genommen, der schon im Revolutionsjahr 1789, auf Anregung des Amerikaners Benjamin Thompson, des späteren Grafen Rumford, eingerichtet worden war. So findet sich im etwa 3,4 km2 großen Central Park neben künstlichen Hügeln und Seen auch eine steinerne halbrunde Bank wie in München; doch wo in München hinter dem Monopteros die Inschrift erläutert: „Hier wo ihr wallet, da war einst Wald nur und Sumpf“, mahnt im Central Park in der Waldo Hutchins-Bank ein Spruch von Seneca, es sei nötig, für jemand anderen zu leben, wenn man für sich selbst leben wolle. Doch nur in New York findet man so viele Eichhörnchen, und es ist kein Wunder, dass sie als verschlagene Boten und Helfer des guten Gottes von Manhattan direkt in das Hörspiel der Bachmann eingezogen sind. Zwei übergroße Bronzeskulpturen locken hier seit mehr als 60 Jahren die Kinder an. Man kann, etwa auf Höhe der 74th Street, Alice im Wunderland besuchen, auf einem Pilz thronend, im Kreis ihrer kuriosen Freunde wie dem März-Hasen und der Grinsekatze. Unweit davon, am See, wartet der riesige, etwas melancholisch dreinblickende Märchendichter Hans Christian Andersen aus Bronze mit einem aufgeschlagenen Buch; er liest, was sonst, „The ugly duckling“. Auf das ‚häßliche Entlein’ zu seinen Füßen setzen sich gerne Kinder und reiten selig davon.
Geht man die gewundenen Pfade südwärts, laden bald die ‚strawberry fields’, die psychedelischen Erdbeerfelder aus dem Song des Beatle John Lennon zum Innehalten ein. Seine Witwe Yoko Ono hat erlaubt, diesen Teil des Central Park in einen vielbesuchten Erinnerungsort zu verwandeln. Unweit des Dakota-Building, wo John Lennon, der heuer 80 Jahre alt geworden wäre, Anfang Dezember 1980 ermordet wurde, lädt ein Bodenmosaik mit dem Wort „Imagine“ zum Verweilen, aber auch zum vielstimmigen Singen ein. Vermutlich nirgendwo auf der Welt werden Beatles-Songs so fröhlich und gekonnt gesungen wie hier; sie sind zu einer Weltmusik geworden, die überall verstanden wird und auch in ihren hartnäckigen Lennon-Parolen „All you need is love“, „Give peace a chance“ und eben „Imagine“ zeitlos geblieben sind.
Dahoam am Hudson
Bei der Vorbereitung literarischer Erkundungen in New York sind zwei Standardwerke weiter unverzichtbar, auch wenn sie nicht mehr lieferbar sind. Die „Spaziergänge durch das literarische New York“ von Gudrun Arndt (Arche, 1999) sind nur in ganz wenigen Fällen überholt; so ist beispielsweise der legendäre Gotham Book Mart in der 41W47th Street, der berühmten Juwelen-Meile New Yorks, nicht mehr vorhanden, schon vor Jahren „moved off“, wie es lakonisch vor Ort hieß. Wer sich daher nach New York ins selige antiquarische Bücherland begeben will, der ist zwischen den „18 Miles of Books“, den 18 laufenden Regalmeilen der Buchhandlung „Strand“ am Broadway 828 bestens aufgehoben! Auch Herbert Genzmers Taschenbuch „New York. Literarische Spaziergänge“ (Insel, 2003) gibt es leider nur noch antiquarisch. Somit muss man sich New York wie eh und je auf eigene Faust erobern. Zwei literarische Adressen sind dabei für deutschsprachige Leser besonders aufschlussreich. Die eine betrifft den selbsternannten bayerischen „Provinzschriftsteller“ Oskar Maria Graf aus Berg am Starnberger See. Er hat lange Jahre in Upper Manhattan, im fünfstöckigen Ziegelbau 34 der Hillside Avenue gewohnt. Fährt man mit der U-Bahn (Linie A) über eine halbe Stunde lang dorthin, kommt man auf Höhe der 193th Street zur Dyckman Street und geht dann die Hillside Avenue hinauf. Merkwürdige Gegend – von seinem hohen Arbeitszimmer im fünften Stock aus konnte Oskar Maria Graf direkt hinab auf den Hudson blicken und fühlte sich dadurch vermutlich an die heimatliche Aussicht vom hoch gelegenen Berg auf den Starnberger See erinnert. Hier, wo er seit September 1938 mit seiner langjährigen Partnerin und späteren Frau Myriam Sachs lebte, schloss er 1940 sein Hauptwerk, „Das Leben meiner Mutter“ ab. Die bäuerliche Kultur-geschichte der Jahre 1857 bis 1934 mit der Wandlung einer Seelandschaft zum Gebiet des Tourismus erschien 1940 in der englischen Übersetzung „The life of my mother“, hatte aber im Land des Muttertags, auf das die Übersetzung vielleicht gezielt hatte, keinen größeren Erfolg; die deutsche Originalausgabe kam erst 1947 bei Kurt Desch in München heraus. Der Autor, der wegen seines Protestes gegen die Bücherverbrennungen der Nazis („Verbrennt mich!“) im Mai 1933 zum Emigrant geworden war, bewahrte seine Heimat literarisch auf, im Wechselblick auf den Hudson vor sich und den Starnberger See in sich.
Hudson als Ostsee
Eine ähnlich intensive Rekonstruktion deutscher Vergangenheit aus der Perspektive einer Mutter, freilich moderner, mit einem Wechsel der Zeiten (1930-1960), der Räume (Mecklenburg, New York) und vielfachen Brechungen vermeintlicher Identitäten unternimmt Uwe Johnson in seinem vierbändigen Roman „Jahrestage“ (1970/83), einem der Ausnahmebücher der deutschen Literatur. Es ist, so das Schlusswort, eine Reise „an den Ort wo die Toten sind“. Man kann, wie das Rolf Michaelis mit dem „Kleinen Adreßbuch von Jerichow und New York“ (1983, Suhrkamp, Neuausgabe 2013) und Fritz J. Raddatz in der ZEIT (1992) unternommen haben, den Roman in mehrfachem Sinn als einen Stadtführer durch New York lesen; allerdings ein wenig anders, literarisch eben, und damit gründlicher als nur touristisch. Nicht die persönliche Erinnerung der Protagonistin und ihres Kindes allein sprechen an; vielmehr ist es die bis ins Detail aufgefangene und festgehaltene Zeitgeschichte des Wahns und der Gewalt im 20. Jahrhundert, in Deutschland, in der Tschechoslowakei, in Amerika und in Vietnam. Dabei kann man sich auf der Suche nach Uwe Johnsons (und seiner Heldin Gesine Cresspahls) Wohnung im Haus 243 Riverside Drive zwar leicht vorstellen, wie sehr den Autor der nahe Hudson ganz ähnlich wie den Kollegen Graf bei seiner Zeit- und Raumreise angeregt haben dürfte; nur erreichbar ist das Wasser dort aufgrund einer (weder über- noch unterschreitbaren) Stadtautobahn ganz und gar nicht. Man kann sich dafür an das Haus selbst halten, an den von Johnson beschriebenen „Fries aus immer noch weißem Sandstein mit Schlangen und Tiergestein“. Die Fremde zeigt ihr tiefstes Geheimnis. Mit dem Haus, so heißt es weiter, habe das Land sie, die Heldin Gesine, eingeholt, denn die dargestellten Tiere seien „gemeint als ein Andenken an die Vorfahren des Pueblostammes, an das Volk der Indianer, denen ihr Land weggenommen war, ein Denkmal für Tote“. Die Literatur hält kurz den Atem an – und stürzt sich gleich darauf wieder in diesen einzigartigen ‚melting pot‘, in diese zeitlose Zeitreise namens New York.
Literaturhinweise
Der gute Gott von Manhattan
Ingeborg Bachmann
Der Hörverlag, Hörbuch Download
ISBN 978-3-8445-1964-8
Euro 13,95 (D/A)
Das Leben meiner Mutter
Oskar Maria Graf
Ullstein Verlag, Taschenbuch, 992 Seiten
ISBN 978-3-548-28874-1
Euro 14,– (D), Euro 14,40 (A)
Jahrestage, 4 Bde. – Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Uwe Johnson
Suhrkamp Verlag, Taschenbuch, 2.150 Seiten
ISBN 978-3-518-46455-7
Euro 42,– (D), Euro 43,20 (A)
Die Erzählungen
Franz Kafka
Fischer Taschenbuch, Kartoniert, 575 Seiten
ISBN 978-3-596-90371-9
Euro 14,– (D), Euro 14,40 (A)
New York – Porträt einer Stadt
Taschen Verlag
Hardcover, Leinen, 428 Seiten
ISBN 978-3-8365-6831-9
Euro 30,– (D/A)
New York – Literaturkalender 2021
Maik Goth
Harenberg Verlag
54 Seiten, Format 25 x 35,5 cm
ISBN 978-3-8400-2564-8
Euro 19,99 (D/A)
Über New York – Das Porträt einer Stadt
Knesebeck Verlag
Hardcover, 224 Seiten
ISBN 978-3-86873-882-7
Euro 39,90 (D), Euro 41,10 (A)
Fotos: Dr. Dirk Heißerer, Adobe Stock, alamy u.a.