Osang

Wie ein uraltes Märchen

Ein Gespräch mit Alexander Osang über den großen Roman seiner Familie „Die Leben der Elena Silber“

Erst einmal unsere herzlichen Glückwünsche zu Ihrer Longlist-Nominierung für den Deutschen Buchpreis! Ihr Roman beginnt mit dem bemerkenswerten ersten Satz: „Sina Krasnowa schob die letzten Scheite in den Ofen, als sie draußen in der Stadt ihrem Mann einen Holzpfahl in die Brust schlugen.“ Sofort steckt man mitten in der Geschichte – wann wussten Sie, dass Ihr Roman mit diesem schockierenden Satz beginnen sollte?
Danke. Ehrlich gesagt habe ich gar nicht so lange über den ersten Satz nachgedacht. Aber es war schon klar, dass das Buch mit einem Paukenschlag beginnen muss. Es ist ein Roman, der sich über das ganze Jahrhundert spannt. Dieser brutale Mord an Elenas Vater ist der Auftakt für ihre Flucht, die hundert Jahre währt. Das Mädchen ist zwei Jahre alt, als das passiert. Sie läuft und läuft und läuft. Aber die Angst bleibt. Sie ist immer noch da. Auch noch, nachdem Elena stirbt. Sie lebt in ihren Kindern, in ihren Enkelkindern weiter.

„Die Leben der Elena Silber“ ist – so der Verlagstext – der große Roman Ihrer Familie. Wie entstand der Wunsch, aus Ihrer Familiengeschichte einen Roman zu machen?
Es ist mein Familienroman. Aber es ist nicht der Roman meiner Familie. Er ist inspiriert von Dingen, die in meiner Familie passiert sind. Auch mein Urgroßvater wurde von Häschern des russischen Zaren brutal hingerichtet. Meine Großmutter war zwei Jahre alt, als das passierte. Sie ist durch ein ganzes Jahrhundert gerannt, sie hat die Zarenzeit erlebt, Stalinismus, Faschismus, Sozialismus und am Ende dann noch Kapitalismus. Als ich sie kennenlernte, war sie eine alte Frau. Eine Oma. Sie hat mir manchmal von diesem Mord an ihrem Vater erzählt. Es klang wie ein uraltes Märchen. Ich wollte wissen, wie lange so eine Erfahrung in einer Familie fortlebt. Und da rede ich nicht mehr von meiner Familie, sondern von der Familie in diesem Roman. Eine Familie, die von starken, mitunter auch harten Frauen geprägt wurde. Die Männer verschwinden alle. Am Ende steht dann Konstantin, Elenas Enkel, ein etwas verschlafener Berliner Filmemacher, der sich dieser uralten Familiengeschichte zuwendet. Bevor er auch noch verschwindet.

„Erinnerungen lügen“, lassen Sie die Baba genannte Elena Silber in der Tonbandaufzeichnung ihrer Tochter Vera sagen. Und trotzdem haben Sie es gewagt. Geht es Ihnen um eine gute Geschichte oder um eine Familiengeschichtsschreibung?
Wahrscheinlich um beides, vor allem aber um eine andere Perspektive. Im Moment wird ja in Deutschland wieder der Ostdeutsche an sich analysiert. Wie wurde er, was er ist. Ich glaube, dass bestimmte Prägungen, auch meine, viel tiefer liegen. Dass es Familienerfahrungen gibt, die weiter zurückgehen als in diese paar Jahre DDR-Sozialismus. Ich weiß nicht, ob es das war, was ich erzählen wollte. Aber die Familiengeschichte in meinem Roman handelt davon.

Sie sind für diesen Roman an die Orte Ihrer Großmutter gereist und haben viel recherchiert. Was hat Sie am meisten beeindruckt? Und wie sehr hat es Ihnen geholfen diese Eindrücke in Ihren Roman mit einfließen zu lassen?
Ich war in der kleinen Stadt, in der meine Großmutter geboren wurde, um zu sehen, wie die Straßen aussehen, die Häuser, was auf den Felder wächst und wie breit der Fluss ist, der in meinem Roman eine große Rolle spielt. Ich war im Sommer da und im Winter, um zu spüren, wie heiß es werden kann und wie kalt. Ich habe die Landschaft angeschaut, durch die sich meine Figuren bewegen. Der Ort, an dem meine Geschichte beginnt, wirkte seltsam unberührt von den Ereignissen des letzten Jahrhunderts. Die Straßen war unbefestigt, es gab wilde Hunde und windschiefe Häuser, es sah aus wie ein einem der sowjetischen Märchenfilme, die ich als Kind sah. Das war natürlich wunderbar, zumindest für mich und die Geschichte, die erzählen wollte.

Was war die größte Überraschung bei Ihren Recherchen? Entsprachen Ihre Entdeckungen Ihren Vorstellungen?
Es ist ja kein Sachbuch. Es gibt schon Geheimnisse in meiner Familie, von denen ich insgeheim hoffte, sie in den russischen und deutschen Archiven knacken zu können. Ein paar Sachen habe ich herausgefunden, aber darum geht es in dem Buch nicht. Ich habe irgendwann begriffen, wie verschieden die Erinnerungen sind, die alle an die Familiengeschichte haben. Und wie stark diese Erinnerungen dann wiederum von dem abwichen, was ich in Archiven, Briefen und in der Wirklichkeit fand. Das war eine Überraschung und in gewisser Weise ist es Thema des Buches geworden. Elenas Töchter habe alle andere Erinnerungen an ihre Mutter, alle verschiedenen Versionen der Geschichte, die sie erlebt hat. Jeder sucht sich sein Fundament, auf dem er sein eigenes Leben aufbauen und erzählen kann. Diese Geschichten helfen den Frauen, zu überleben, machen sie aber auch zu Konkurrentinnen. Jede Tochter will ja ihre Version durch die Zeit bringen.

Wie kommt es, dass so viele Figuren Ihres Romans über Generationen hinweg wie Inseln sind, voller nicht benennbarer, unerfüllbarer Sehnsüchte, Einsamkeit und Misstrauen? Sie finden sich in Rollen wieder, die sie selbst gar nicht recht verstehen. Wie erklären Sie diese Verlorenheit?
Elena saß als kleines Mädchen an dem großen Fluss und hoffte, dass er sie einmal aus diesem furchtbaren, trüben Leben herausführen wird. Ihr Vater war tot, ihr Stiefvater belästigte sie, ihre Mutter kümmerte sich mehr um die Halbgeschwister. Sie folgt den Flüssen immer weiter nach Westen. Sie gründet eine Familie. Ihr Leben ändert sich. Aber es wird nicht das, was sie sich damals vorgestellt hat als vierzehnjähriges rothaariges Mädchen. Das wird es ja selten. Elena aber kann nicht mehr zurück. Ihre Geburtsstadt liegt irgendwann in einer gesperrten Zone. Sie versteht irgendwann, dass sie eigentlich gar keine Heimat hat. Alles was bleibt, ist die Sehsucht, dass es besser wird. Hinter der nächsten Biegung des Flusses. Diese Hoffnung verlässt sie nicht, bis zum Schluss nicht.

Sehen Sie hier Parallelen zu Ihrem eigenen Leben?
Das Gefühl der Heimatlosigkeit ist mir sehr vertraut. Es treibt auch mich an, immer weiter zu ziehen. Ich habe lange in New York gelebt, jetzt lebe ich in Israel. Aber anders als Elena kann ich immer wieder zurück nach Berlin.

Vorausgesetzt, es gibt die im Buch erwähnte Verwandtschaft mütterlicherseits: Was hält Ihre Familie von Ihrem Buch?
Es ist, wie gesagt, ein Roman. Aber natürlich sucht jeder aus meiner Familie nach seiner Rolle in dem Stück. Das kann ich nicht verhindern. Ich habe das Manuskript meiner Mutter zum Lesen gegeben. Nicht zum Redigieren. Nur zum Lesen. Sie sollte es vor den anderen kennen.

Was ist das schönste Kompliment, das man Ihnen für „Die Leben der Elena Silber“ machen könnte?
„Ich habe es in einer Nacht durchgelesen.“ Es sind 630 Seiten!  

Vielen Dank für das Gespräch!



osang

Alexander Osang
Die Leben der Elena Silber
S. Fischer Verlag
Hardcover, 624 Seiten
ISBN 978-3-10-397423-2
Euro 24,– (D), Euro 24,70 (A)
auch als E-Book

Alexander Osang, geboren 1962 in Berlin, studierte Journalistik in Leipzig und arbeitete nach der Wende als Chefreporter der Berliner Zeitung. Für seine Reportagen erhielt er mehrfach den Egon-Erwin-Kisch-Preis und den Theodor-Wolff-Preis. Alexander Osang schreibt heute für den „Spiegel“ aus Tel Aviv, davor lebte er in Berlin und acht Jahre lang in New York. Sein erster Roman „die nachrichten“ wurde verfilmt und mit zahlreichen Preisen, darunter dem Grimme-Preis, ausgezeichnet. Im S. Fischer Verlag und Fischer Taschenbuch Verlag sind darüber hinaus die Romane „Comeback“, „Königstorkinder“, „Lennon ist tot“  und „Die Leben der Elena Silber“ erschienen, die Reportagenbände „Im nächsten Leben“ und „Neunundachtzig“ sowie die Glossensammlung „Berlin – New York“.