Natalie Amiri

Unter Gefährdung ihres eigenen Lebens reiste die Journalistin Natalie Amiri zuletzt im November 2021 nach Afghanistan, um sich ein Bild der aktuellen Situation nach der erneuten Machtübernahme der Taliban zu machen. Nun berichtet sich in ihrem neuen Buch „Afghanistan. Unbesiegter Verlierer“ empathisch und schonungslos, über das Scheitern des Westens in Afghanistan und die drastische Lage der Afghan*innen.



Natalie Amiri Liebe Frau Amiri, Sie haben uns mit Ihrem Mut und Ihrem Einsatz für die Menschen in Afghanistan sehr beeindruckt, insbesondere als Sie als Frau und ausländische Journalistin im November 2021 alleine durch das Land reisten. Was treibt Sie an?
Dass das außenpolitische Versagen der internationalen Staatengemeinschaft, allen voran den Amerikanern nicht in Vergessenheit gerät. Wir befinden uns schon wieder mitten in einem neuen grausamen Krieg. Nach Afghanistan sieht niemand mehr. „Als würden wir nicht mehr existieren“, sagt mir eine afghanische junge Frau, die sich vor den Taliban verstecken muss, weil sie zu modern war, zu selbständig, zu emanzipiert. Im Schatten des Ukraine Krieges scheint das Islamische Emirat von der Weltöffentlichkeit unbeobachtet ihre fundamentalistische religiöse Politik durchzuziehen.

Anders als zugesichert, haben die Taliban ihr Versprechen nicht eingehalten, das sie den afghanischen Mädchen und dem Westen gegeben hatten: Der Besuch einer weiterführenden Schule für alle afghanischen Mädchen nach dem Frühlingsanfang am 20. März.

Können Sie uns erzählen, wie es zu diesem Buch kam? Schwelte der Gedanken an einen solchen Bericht schon lange in Ihnen?
Es war der Aufbau Verlag, der nach dem erfolgreichen Iran Buch auf mich zukam und mich bat, ein neues Buch zu schreiben. Sofort kam mir Afghanistan in den Sinn. Ein Land das ich schon oft bereiste, das mich faszinierte. Dass es ein Buch über Afghanistan werden wird, war schon lange vor der Machtübername der Taliban beschlossen. Ich kaufte mir Landkarten, wollte mich auf die Spuren von Rogerson begeben. Doch dann kam alles anders. Die Taliban übernahmen am 15. August 2021 die Macht. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt ein Touristenvisum für Afghanistan im Pass. Mit diesem konnte ich nicht mehr einreisen. Überhaupt war nicht klar, ob ich als Frau allein wirklich noch nach Afghanistan komme, ob es nicht zu gefährlich, zu unsicher ist. Doch wie will man ein Buch schreiben aus der Ferne. Also habe ich alle Zweifel beiseite geschoben und bin 100 Tage nach Machtübernahme nach Kabul geflogen. Allein, ohne Team. Denn ich wusste nicht, wie gefährlich es wird und konnte die Verantwortung für diese Reise ins Ungewisse nicht übernehmen.

Wann ist für Sie Ihr Buch erfolgreich? Was möchten Sie bei Ihren Leser*innen erreichen?
Wenn ich von den Leserinnen und Lesern Feedback bekomme. Wie diesen Leserbrief z.B.: „Liebe Frau Amiri, gerade habe ich Ihr Buch gelesen. Man muss danach wirklich erstmal wieder zu Atem kommen. Sie schreiben sehr, sehr gut, sachlich, präzise und sehr verständlich für eine große Leserschaft, erzählend zum Weiterlesen und sehr authentisch alles von Ihren Gesprächspartnern. Und auf jeder Seite ist Ihr Engagement zu spüren, das meine Emotionen berührt. Gelegentlich auch Ihre Wut und Ihre Tränen, die Sie erwähnen. Die Chats, die Sie wörtlich aufgenommen haben, sind ein Zeitdokument. Ganz wichtig! Sie zeigen auch das Engagement einiger Ihrer Gesprächspartner, sind aber vor allem beschämend für unsere Regierungsbehörden in ihrer bürokratischen Verkrustung und Hilflosigkeit. Beschämend auch, wie schnell Afghanistan wieder aus dem Fokus der Medien entschwand, schon vor diesem fürchterlichen Ukrainekrieg und jetzt natürlich erst recht. Auch wenn in Afghanistan nichts erreicht wurde, es jetzt dort schrecklich ist und noch keine Besserung oder gar Lösung in Sicht, so hoffe ich doch, dass Ihr Buch allen, die sich noch und in Zukunft damit beschäftigen, ein guter Leitfaden bleibt. Es bleibt noch viel. In der Einleitung schreiben Sie, dass jedes Kapitel ein ganzes Buch Wert wäre. Ja, so ist das. Schreiben Sie weiter. Sie schreiben so eindringlich über die Frauen und Ihre Gespräche mit ihnen und ihr Schicksal. Sie verbinden sehr guten Journalismus mit sehr überzeugendem Engagement.“

In ihrem Buch kommen beeindruckend viele Menschen zu Wort. Wie haben Sie den Kontakt aufgenommen? Wie schafften Sie es, dass Menschen mit Ihnen offen und aufrichtig über Afghanistan sprachen?
Das passiert einfach. Ich hätte noch viel mehr Gespräche führen können, noch viel mehr Stimmen zu Wort kommen lassen können. Vermutlich sehen meine Gesprächspartner, dass ich wirklich Interesse an ihren Geschichten habe, dass sie mich emotional bewegen. Dass ich ihre Geschichten in die Öffentlichkeit bringen will. Sie merken, dass sie so mitwirken können, gegen die Ungerechtigkeit, gegen das Wegschauen, gegen das Desinteresse, das nach der Machtübername eingesetzt hat. Und ich spreche Dari, die Sprache eines Landes zu kennen ist immer eine gute Eintrittskarte.

Besonders intensiv und selbst für uns Leser*innen schwer auszuhalten ist das Kapitel über den Abzug der internationalen Streitkräfte. Sie berichten in Ihrem Buch von mehr als 70 Personen, überwiegend Frauen, die Sie auf die Liste der Schutzbedürftigen Personen des Auswärtigen Amtes setzen lassen wollten. Wie geht es diesen Personen von der „Amiri-Liste“ heute? Haben Sie Kontakt?
Ja den habe ich. Und er bedrückt mich. Denn ich sehe, wie diese Frauen, die in ihrem eigenen Land aufblühten, ihr Leben selbstbestimmt und erhobenen Hauptes lebten, hier in Deutschland teilweise eingehen. Weil sie in Flüchtlingsunterkünften festsitzen, weil sie die Sprache nicht sprechen, weil sie keine Jobs haben. Und jede Minute an ihr Land denken, immer mit dem schlechten Gewissen, dass sie in Freiheit und Sicherheit sind und ihre Mitstreiterinnen zuhause sich verstecken müssen vor den Taliban, verbannt sind an den Herd. Dort wo sie vielleicht noch nie zuvor standen in ihrem Leben.

Wie schaut die konkrete Situation der Frauen aus, die in Afghanistan geblieben sind?
Täglich bekomme ich Anrufe von Frauen aus afghanischen Städten, die um Hilfe bitten, weil sie verfolgt werden, von den Taliban, oder von anderen. Männern, patriarchalisch, indoktriniert von traditionellen paschtunischem Stammesdenken und einem konservativen Islam und fundamentalistischem Gedankengut. Sie wollten noch nie, dass „ihre“ Frauen in der Öffentlichkeit auftauchten, oft gegen den Willen der eigenen Familie ein Studium antraten, in die Stadt zogen, ihr eigenes Geld verdienten. Sich ohne Kopftuch zeigten. Emanzipiert und selbstbestimmt lebten. Jetzt ist Payback Zeit angesagt. Viele Männer der Gesellschaft sahen es nicht gern, dass die Frauen so selbstständig waren. Dass sie sich nichts sagen lassen wollten. Dass sie nicht gehorchten. Die Anwesenheit der Taliban hat diesen Männern Aufwind und Rückendeckung gegeben. Vor der Machtübernahme der Taliban waren Frauen durch Verfassung und Präsenz der internationalen Staatengemeinschaft teilweise noch geschützt. Doch jetzt haben sie jeglichen Schutz verloren. Das Frauenministerium wurde durch das Ministerium für Tugend ersetzt, genauer: Ministerium für Gebet und Führung und die Förderung von Tugenden und Verhinderung von Lastern. Frauenschutzräume wurden geschlossen. Frauenrechtlerinnen haben entweder das Land verlassen, werden von den Taliban verfolgt und wenn sie es wagen zu protestieren, verhaftet.

Welche realistischen Wünsche und Hoffnung haben Sie für Afghanistan?
Dass es eine Einigung zwischen den Taliban und den Frauen gibt. Dass sich die Taliban darauf einlassen, dass die afghanischen Frauen das Land mit aufbauen. Denn ohne geht es nicht. Doch meine Hoffnung schwindet. Im Moment setzt sich die ultrakonservative Hardliner Fraktion der Taliban durch, was wir bei der Durchsetzung des erneuten Schulverbots beobachten konnten. Der Westen muss den Taliban Bedingungen stellen und diese einfordern und kontrollieren - conditional help. Gleichzeitig muss der moderatere Flügel der Taliban gestärkt werden. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Hardliner rund um das Haqqani Netzwerk innerhalb der Taliban von Pakistan unterstützt werden. Auch da muss der Westen Richtung Pakistan endlich klare und dominante Worte finden.

Was können wir hier in Deutschland für die Menschen in Afghanistan tun? Haben Sie konkrete Tipps?
Kontakt halten. Ihnen signalisieren: Wir haben Euch nicht vergessen. NGO´s unterstützen, die ihre Arbeit nicht aufgegeben haben. Und Druck ausüben auf die Politik. Afghanistan befindet sich im Moment in einer der schlimmsten humanitären Katastrohen. Wir können nicht einfach wegsehen!

Könnten Sie uns zum Ende unseres Gesprächs noch von einem Erlebnis auf einer Ihrer Afghanistan-Reisen erzählen, das hoffungsvoll stimmt?
Mahbouba Seraj. „Lasst uns unser Land gemeinsam aufbauen“, sagte sie mir in Afghanistan in einem Interview. Und meint dabei die Taliban. Sie ist eine der wenigen bekannten Frauenrechtlerinnen, die das Land im Sommer nicht verlassen hat. Sie lebte 26 Jahre in den USA im Exil. Kam 2003 nach Afghanistan zurück, gründete das Afghan Woman Network, hatte einen eigenen Radiokanal mit dem Titel: „Our beloved Afghanistan“ und wurde vom Time Magazin zu einer der 100 einflussreichsten Menschen 2021 nominiert. Frauen wie sie braucht Afghanistan. Sie wird sich nicht unterkriegen lassen. Gäbe es mehr Frauen wie sie, dann hätten die Taliban es schwer, ihre toxische Politik durchzusetzen.

Vielen Dank für das Gespräch!



Afghanistan

Afghanistan
Natalie Amiri
Unbesiegter Verlierer
Aufbau Verlage
Hardcover, 255 Seiten
978-3-3510-3963-9
€ 22,-