
Es gibt Weine, die vergisst man nicht
Leichte und unkomplizierte Weine Baden-Württembergs
Sie brennen sich im Gedächtnis ein wie ein Tattoo in der Haut. Sie sind auch nach Jahren noch so präsent, als hätte man sie gerade erst getrunken: das Aussehen, der Geschmack und das Gefühl, das sie in einem ausgelöst haben. Manchmal sind die Erinnerungen positiv, manchmal aber auch negativ.
Trollinger aus dem Henkelglas
So ein Wein war der Trollinger für mich. Vor etwa 20 Jahren wurde er mir erstmals in einer Besenwirtschaft irgendwo um Heilbronn herum kredenzt, in die mich ein Buchhändler nach einer Lesung eingeladen hatte. Der Wein war blassrot, dünn, schmeckte wie eine abgestandene, liebliche Schorle und wurde zu allem Überfluss auch noch aus einem Glas getrunken, das keinen Stiel, sondern einen Henkel hatte. Der Wein löste bei mir heftige Ablehnung aus. Die Ablehnung war so stark, dass ich Trollinger viele, viele Jahre nicht mehr anrührte. Mehr noch: Ich fragte mich, wie es Menschen geben kann, die diesen Wein freiwillig in sich hineinschütten. Sind sie schmeckblind? Haben sie nie richtige Rotweine getrunken?Das schwäbische Lebensgefühl
Als einer, der aus Schleswig-Holstein stammt und in Bayern lebt, darf man derart ketzerische Fragen stellen. Denn Trollinger ist ein Wein, der praktisch nur in Württemberg getrunken wird. Nicht-Württemberger kennen ihn nicht, und wenn sie ihn doch mal getrunken haben, schmeckt er ihnen meist wie mir. Die Schwaben sagen, dass Trollinger gar kein Wein sei, sondern ein Lebensgefühl. Kann sein. Ich erinnere noch gut den Tatort-Kommissar Ernst Bienzle, der 15 Jahre lang TV-Morde in und um Stuttgart aufklärte und nach der Festnahme des Mörders immer zu seinem Assistenten sagte: „Des war oi bissle knapp…“. Dann schenkte er sich den merkwürdigen Wein ein (auch in ein Henkelglas) und sagte „Broschd“. Das ist es wohl, das schwäbische Lebensgefühl. Wer es nicht hat, versteht den Trollinger nicht, was die Schwaben aber nicht weiter stört. Sie freuen sich, dass sie den Wein für sich selbst haben.Leicht, unkompliziert, gerbstoffarm
Irgendwann musste ich meine Meinung über den Trollinger allerdings revidieren. Das kam so: Ich saß in München in einem Restaurant, auf dem Teller lag ein gegrillter Oktopus. Der Chef kam zu mir und fragte, ob er mir einen passenden Wein anbieten dürfe. Er stellte mir etwas Blassrotes hin, im Stielglas, gut gekühlt und trocken. Der Wein schmeckte. Er schmeckte sogar wunderbar und passte perfekt zu dem Gericht. Es war – Sie ahnen es, liebe Leser – ein Trollinger. Der Chef war der TV-Koch Ali Güngörmüs. Er wusste einfach, was gut ist.Die sieben Besten
Seitdem ist mir klar, dass Weine dieser Sorte auch für Menschen, denen das schwäbische Lebensgefühl abgeht, trinkbar sind, sogar gut trinkbar. Der kürzlich erschienene Gault & Millau Weinguide „Baden & Württemberg“ hat die sieben besten Trollinger aufgelistet, und wer steht auf Platz 1? Der Wein, den ich zwei Jahre vorher bei Ali Güngörmüs trank. Es gibt sie zwar noch, die Bienzle-Trollinger. Aber sie werden weniger, während die neuen, modernen Trollinger zunehmen. Die Menschen schätzen ihre Leichtigkeit, die Unkompliziertheit, vor allem die Gerbstoffarmut, die sie von den anderen dunklen Württemberger Rotweinen unterscheidet: dem Lemberger oder den teuren Luxuscuvées. Der Preis ist schließlich auch ein Argument.Einfach, aber nicht langweilig
Im benachbarten Baden gibt es einen vergleichbaren Wein. Er ist weiß, nicht rot, und war außerhalb Badens bis vor kurzem kaum bekannt. Sein Name: Gutedel. Auch er ist ein einfacher Wein. Die Klasse eines Rieslings hat er nicht. Aber wenn man die Zahl der Trauben pro Rebstock begrenzt und den Wein nach der Gärung noch ein paar Monate im Fass auf der Hefe liegen lässt, bevor man ihn abfüllt, dann wird aus dem Gutedel ein feinwürziger, eleganter Wein. Sur lie würde man in Frankreich dazu sagen: auf der Hefe gelagert. Gutedel wächst nur im Markgräflerland. Dort ist die Hälfte der Weinberge mit der gleichnamigen Rebe bepflanzt.Dreamteam Spargel & Gutedel
Das Markgräflerland ist zugleich Deutschland größtes zusammenhängendes Spargel-Anbaugebiet. Und zu Spargel passt der Gutedel mit seiner milden Säure und dem unaufdringlichen Geschmack besonders gut – so gut, dass er seine Liebhaber inzwischen auch außerhalb Badens gefunden hat. Als ich mir neulich sechs Flaschen vom Winzer habe schicken lassen, hat dieser unaufgefordert ein Bund Spargel beigelegt. Nette Geste. Natürlich kann man Gutedel auch den Rest des Jahres trinken – die Badener machen es vor. Aber man sollte ein Exemplar wie oben beschrieben zur Verfügung haben. Langweilige, ja banale Gutedel gibt es immer noch zur Genüge, und da man nicht jede Weinregion selbst bereisen kann, schon gar nicht in Corona-Zeiten, ist auch hier der Weinguide hilfreich. Wenn man außerdem bedenkt, dass Baden vor allem für seine Grau- und Weißburgunder sowie für den roten Spätburgunder berühmt ist, von denen ein paar Fläschlein im Keller vorzuhalten dringend zu empfehlen ist, dann ist der Weinguide sogar unverzichtbar.Spaß und Bildung
Weintrinker brauchen Tipps, um ihr Glück nicht dem Zufall zu überlassen. Die neue Generation der Winzer bricht überall mit der Politik ihrer Väter und drängt nach vorne – in allen 13 Weinanbaugebieten Deutschlands von Saale-Unstrut bis zum Bodensee. Die Wein-Scouts vom Gault & Millau verfolgen die Entwicklung akribisch. Sie testen die Weine, sprechen mit den Winzern, informieren über Jahrgänge und Lagen. Im März haben sie ihren zweiten Weinguide Deutschland publiziert, der den drei Regionen Franken, Nahe, Ahr gewidmet ist. Und Ende Mai ist auch der dritte Band erschienen: Pfalz. Neben guten Weinen und Winzern liefern diese Guides Tipps für Übernachtungen in Weinhotels und Winzerlodges, dazu die Namen von Landgasthäusern, in denen die regionale Küche gepflegt wird. Wein macht Spaß. Aber Wein bildet auch.
Weinguide Deutschland
Baden & Württemberg 2021
Gault & Millau
Riva Verlag
Hardcover, 340 Seiten
ISBN 978-3-7423-1732-2
Euro 16,90 (D), Euro 17,40 (A)
Tipps & Tricks für Weintrinker
Wie geht man mit Weinstein um?Weinstein nennt man die kleinen kristallinen Ablagerungen, die sich manchmal auf dem Boden von Weißweinflaschen befinden. Sie sehen aus wie Zuckerkristalle, lösen sich allerdings nicht auf und können beim Einschenken ins Glas gelangen. Manche Menschen glauben, ein solcher Wein sei verdorben. Das Gegenteil ist der Fall: Weinstein ist immer ein Zeichen dafür, dass ein Wein auf eine schonende Weise geklärt wurde. Allerdings wird Weinstein nicht mitgetrunken. Der letzte Schluck im Glas geht in den Ausguss.
Von: Jens Priewe