Tessin

Tessin – ein literarischen Spaziergang

Beruhigende Nähe

Wer heute in Lugano auf der Terrasse des Fünf-Sterne Grand Hotels Villa Castagnola Platz nimmt und den Cappuccino mit Blick auf den Luganer See und den „Zuckerhut“ Monte San Salvatore genießt, kann sich leicht vorstellen, wie es Thomas Mann Ende März 1933 ergangen sein muss, als ihm endgültig klar wurde, dass auch für ihn das Exil begonnen hatte.

Das „heitere elegante, aber separierte Hotel“ (es liegt nicht gerade zentral), so der Tagebucheintrag vom 27. März 1933, sagte ihm durch seinen „schönen Garten“ und seine „europäische Küche“ zu; mehr noch aber fühlte er sich nach dem vielfach provisorischen Reiseleben seit dem Abschied von München endlich wieder „durch ein gewohntes Niveau beruhigt“.

Besonders beruhigend wirkte auf ihn die Nähe des Dichter-Kollegen Hermann Hesse im nahen Bergdorf Montagnola. Bei seinem ersten „ausgedehnten Spaziergang“ mit Hesse zwei Tage zuvor hatte Thomas Mann die Landschaft des Tessin sehr wohlwollend und geradezu mit einem Malerauge wahrgenommen; es ging „durch Bergwälder und Dörfer, freudig bewegt von der idealen, in romantisch-gemäldehaften Tinten sich darstellenden, zugleich großartigen und feinsinnig zierlichen Brückenlandschaft mit Nord und Süd, Schneebergen, See, Ortschaften, heiter und grandios, ‚trop meublée’, sehr neu und ausdrucksvoll für mich“. Bis Ende April 1933 bleiben Thomas Mann und seine Frau Katia in Lugano, reisen dann über Basel nach Südfrankreich, wo sie den Sommer verbringen, bevor sie sich im Herbst 1933 für die nächsten fünf Jahre in Küsnacht bei Zürich niederlassen.



„Glasperlenspiel“

Immer wieder zieht es Thomas Mann anfangs nach Montagnola zu Hermann Hesse, in die „idealhaft-überschöne, romantische Landschaft“, wie er am 28. März 1933 im Tagebuch notiert: „Das südliche Wirken des Gemäuers im blau-weißen Licht. Hesses frühere Wohnung mit tropisch wirkendem Garten.“ Gemeint ist die Casa Camuzzi, Hermann Hesses Wohnsitz von Mai 1919 bis 1931. Hier hat er sich in mehrfacher Hinsicht aus Deutschland hinübergerettet und die verdüsterte Seele von den Sorgen und Nöten der Kriegsjahre befreit; davon geben die Erzählung „Klingsors letzter Sommer“ (1920) ebenso Kunde wie die ersten liebevoll-gekonnten Aquarelle Hesses, mit denen er die Landschaft von nun an in unendlichen Variationen leuchten lässt. Hier entstehen die Werke der romantischen Doppelseele Hesses, der „Siddhartha“ (1922) ebenso wie der „Steppenwolf“ (1927), und fast zwangsläufig Ausdruck findet in „Narziß und Goldmund“ (1930). Heute befindet sich die Casa Camuzzi in Privatbesitz und kann nicht besichtigt werden. Nebenan jedoch, in einem alten „Torre“, ist das erste Schweizer Hermann-Hesse-Museum untergebracht, das als Prunkstück die Schreibmaschine des Dichters präsentiert. Sie stand mehr als dreißig Jahre an einem ganz besonderen Ort. Hesse, der schwäbische Revoluzzer-Idealist, hatte besonderes Dichterglück gehabt, als ihm seine Zürcher Freunde Elsy und Hans C. Bodmer ein Haus nach seinen Wünschen bauten und ihm auf Lebenszeit zur Verfügung stellten. Im Juli 1931 ziehen Hesse und seine spätere Frau aus der Casa Camuzzi in die Casa Rossa, wo sich das Eremitenglück Hesses literarisch besonders gut entfalten kann. Höhepunkte dieser Zeit sind „Die Morgenlandfahrt“ (1932) und „Das Glasperlenspiel“ (1943) und mit der Verleihung des Nobelpreises für Literatur (1946) ehrt die literarische Welt 17 Jahre nach Thomas Mann dessen in guten wie in schlechten Tagen bewährten Freund. Heute ist auch die Casa Rossa in Privatbesitz und unzugänglich; zu Hermann Hesse selbst gelangt man aber, wenn man sein Grab auf dem Friedhof von Sant’Abbondio unweit von Montagnola aufsucht.



Monte Verità

Lange vorher kommt auch die freigeistige Franziska Gräfin zu Reventlow im Oktober 1910 aus München ins Tessin, ins „Schwabing von Schwabing“. Am Lago Maggiore, in Ascona, hat sich damals seit zehn Jahren eine bunte Schar von Lebensreformern auf dem Monte Verità, dem ‚Berg der Wahrheit’, versammelt, um die Ideen der damals aufkommenden Reformsanatorien (wie Dr. Hartungen am Gardasee oder Dr. Lahmann in Dresden) durch sogenannte „Licht-Luft-Hütten“, vegetarisches und freikörperliches Leben bis ins Soziale, bis in die Aufhebung der alten Rollenverhältnisse von Frauen und Männern, fortzuführen. Selbst die Reformkleider werden für die Gartenarbeit in der warmen Tessiner Sonne abgelegt. Dieses freie Leben lockt auch die Dichter, und Hermann Hesse lässt sich als Adonis im Fels ablichten. Doch Erich Mühsam, der Anarcho-Kommunist, kritisiert schon 1905 das Treiben am Monte Verità in einer Broschüre heftig als dilettantisches Unternehmen: Ohne die „Basis einer revolutionär-sozialistischen Tendenz“ und nur mit Pflanzenkost und Freikörperkultur sei keine wahre Lebensreform zu erreichen! Allerdings macht er 1910 die finanziell meist eher klamme Gräfin Reventlow darauf aufmerksam, dass sie in Ascona aus erbrechtlichen Gründen eine Scheinehe mit einem Baron Rechenberg eingehen könne, um dadurch wohlhabend und endlich sorgenfrei zu werden – gesagt, getan. Die gescheiterte Möchtegern-Künstlerin flüchtet sich nach Ascona und schreibt dort ihre wichtigsten Bücher: „Von Paul zu Pedro“ über die Männertypen in ihrem Leben (1912), und vor allem den wieder hoch aktuellen Schwabinger Schlüsselroman „Herrn Dames Aufzeichnungen“ (1913) als Karikatur von Transsexualität. Das erheiratete Geld hat sie währenddessen vertrauensvoll dem Credito Ticinese anvertraut, – doch der geht in Konkurs, und alles ist perdu! Die Reventlow reagiert darauf mit dem Roman „Der Geldkomplex“ (1916) und dem Novellenband „Das Logierhaus zur schwankenden Weltkugel“ (1917). Im Jahr darauf stirbt sie nach einem Fahrradunfall; das Urnengrab der „Contessa Francesca Reventlow“ befindet sich auf dem Friedhof von Locarno.



Bergtour

Vor der Abfahrt aus Locarno empfiehlt sich noch ein Besuch an dem von sieben Lorbeer-Bäumchen umstandenen Grab des Dichters Stefan George in Minusio; sein Nachleben im „Kreis ohne Meister“ (Ulrich Raulff) beginnt mit dem Tod Georges am 4. Dezember 1933 in der Klinik von Muralto und seiner Beerdigung zwei Tage später im Kreise der Getreuen. Besonders lohnend ist danach eine Bergtour hinauf ins Valle Onsernone. Dort haben sich drei deutschsprachige Autoren zwischen 1958 und 1964 aus unterschiedlichen Gründen angesiedelt. Den Anfang machte 1958 Alfred Andersch aus München, der damit, wie er selbst gestand, seine verfehlte Emigration von 1933 nachholte. Das Fluchtmotiv durchzieht seine wichtigsten Werke, den Lebensbericht „Die Kirschen der Freiheit“ (1952) und den Fluchtroman „Sansibar oder der letzte Grund“ (1957). In Berzona, wo er mit seiner zweiten Frau, der Künstlerin Gisela Groneur Andersch lebt, schreibt Andersch den Fluchtroman einer Deutschen, „Die Rote“ (1960), viele wichtige autobiographische und zeitgeschichtlich pointierte Erzählungen und Essays, auch Reisebücher („Wanderungen im Norden“, 1962) und zuletzt die Kriegsutopie „Winterspelt“ (1974, alle Diogenes Verlag). Nachbar Anderschs wurde 1961 Golo Mann, der zweite Sohn Thomas Manns, der hier in den Ferien an seiner historischen Erzählung „Wallenstein“ (1971) arbeitete. Zwischen Alfred Andersch und Golo Mann, entwickelte sich eine Freundschaft, die später allerdings aufgrund gegensätzlicher politischer Ansichten wieder zerbrach.

Etwas dauerhafter war das Verhältnis Anderschs zu seinem zweiten literarischen Nachbarn, dem Zürcher Dramatiker und Erzähler Max Frisch. Aber auch dieses Verhältnis ist nicht frei vom „Intellektuellenzank“ (Peter von Matt). Umso wichtiger ist dabei, dass Max Frisch sich der rauen Umgebung Berzonas nicht, wie Andersch oder Golo Mann, als Fremder und Flüchtling stellte, sondern vielmehr als Städter in der ungewohnten Umgebung der ‚natura naturans’, der wirkenden Natur selbst. So entwickelt er in dem Prosastück „Berzona“ aus der Beobachtung eines Boccia spielenden Ehepaars von Mordgedanken am Anfang bis zur Schlussfindung „ein glückliches Paar, eine gute Ehe“ ein umgekehrtes Dramolett. Höhepunkt dieser ungeschminkten, Zeit und Raum überwindenden Naturbetrachtung ist allerdings die Erzählung: „Der Mensch erscheint im Holozän“ (Suhrkamp Verlag, 1979), mit dem Schlüsselsatz: „Ein Weg ist ein Weg, auch in der Nacht“. Die Betrachtung über den Dauerregen ist schonungslos und dürfte so schnell von keiner Werbeagentur in einen Prospekt übernommen werden. Dabei ist darin auch Trost spürbar, so in dieser geradezu asiatisch knappen Sentenz: „Wenn der Regen einmal nachlässt, nicht gänzlich aufhört, aber sich verdünnt, so dass er nicht mehr auf dem Dach zu hören ist, Regen nur noch als lautlose Schraffur vor dem Dunkel der nächsten Tanne, so ist keine Stille, im Gegenteil, jetzt erst hört man es rauschen aus dem Tal; es müssen Bäche sein überall, viele Bäche, die es sonst nicht gibt. Ein stetes Rauschen aus dem ganzen Tal.“



Literaturhinweise



Der Mensch erscheint im Holozän – Eine Erzählung
Max Frisch
Suhrkamp Verlag
Paperback, 160 Seiten
ISBN 987-3-518-37234-0
Euro 8,– (D), Euro 8,30 (A)



Von Paul zu Pedro – Amouresken
Franziska Gräfin zu Reventlow
Reclam Verlag
Paperback, 122 Seiten
ISBN 978-3-15-020643-0
Euro 10,– (D), Euro 10,30 (A)



Literaturhotels – Auf den Spuren von Hermann Hesse, Agatha Christie, Oscar Wilde und anderen
Barbara Schaefer
Busse & Seewald Verlag
Hardcover, 176 Seiten
ISBN 978-3-7724-7276-3
Euro 25,– (D), Euro 25,70 (A)



Freie Liebe und Anarchie – Schwabing – Monte Verità Entwürfe gegen das etablierte Leben
Ulrike Voswinckel
Alliteraverlag
Paperback, 184 Seiten
ISBN 978-3-86906-027-9
Euro 18,90 (D), Euro 19,50 (A)



Farbe ist Leben – Die schönsten Aquarelle Entwürfe gegen das etablierte Leben
Hermann Hesse
Insel Verlag
Hardcover, 174 Seiten
ISBN 978-3-458-36498-6
Euro 16,– (D), Euro 16,50 (A)



Gebrauchsanweisung für das Tessin
Thomas Blubacher
Piper Verlag
Klappenbroschur, 224 Seiten
ISBN 978-3-492-27723-5
Euro 15,– (D), Euro 15,50 (A)

Dirk Heißerer, geboren 1957, ist Literaturwissenschaftler und Autor sowie Vorsitzender des Thomas-Mann-Forums München e.V.. Seit 1988 veranstaltet er literarische Spaziergänge und Exkursionen zwischen Schwabing und dem Gardasee. (www.lit-spaz.de).

Fotos: © Dr. Dirk Heißerer, Adobe Stock, alamy u.a.