Keller

Die schönen Dinge

Interview mit Lena Gorelik

1992 reist ein Mädchen mit den Eltern, der Großmutter und ihrem Bruder von Sankt Petersburg nach Deutschland aus: In berührenden Episoden erzählt die Autorin Lena Gorelik über ihre Kindheit vor und nach dem Neuanfang, über geliebte Menschen, über das Ankommen in einem neuen Land, in einer neuen Sprache – als Ausländerin, Jüdin, Streberin, als Mädchen, das anders ist, oft „nicht richtig“. Der autobiographische Roman schlägt den Bogen vom Kind, das nicht nur seinen geliebten Hund zurücklassen muss, zur heutigen Frau.

Liebe Frau Gorelik, im autobiographischen Schreiben steckt ja viel Reflexion über das eigene Leben: Wer bin ich? Wo komme ich her? Die Frage liegt also nahe: Wer sind Sie heute?
Ich weiß gar nicht, ob ich diese Frage jemals eindeutig beantworten möchte; momentan jedenfalls definitiv nicht. Es ist schön, nur zu ahnen, wer man ist, es ist fruchtbar, weil man immer weiter suchen muss und darf. Jedenfalls bin ich all das, was Sie aufzählen – die Ausländerin, Streberin, das Mädchen, das anders ist, irgendwo sicherlich immer noch, trage die prägenden Erfahrungen noch ein bisschen in mir. Sie haben mich ja auch wachsen lassen – und an anderer Stelle das Wachstum verlangsamt, jedenfalls machen sie auch aus, was und wer ich heute bin. Ein Mensch, der darüber nachdenkt, wer sie ist, das bin ich jedenfalls. Und offensichtlich auch das Bedürfnis hat, darüber zu schreiben.

Macht man sich angreifbar und verletzbar im autobiographischen Schreiben? Gibt es Grenzen im Erzählen oder Schutzmechanismen?
Dieses Buch – dieses Thema – hatte ich schon sehr lange im Kopf, hatte immer wieder Notizen, Absätze, Versuche aufgeschrieben, und eines Tages gewusst: Jetzt bin ich so weit. Es zu schreiben, zu denken, zu erinnern, mich für Worte zu entscheiden. Es gab ein paar autofiktionale Bücher, die ich in den vergangenen Jahren gelesen habe, und die mich nachhaltig beeindruckt haben – und möglicherweise auch innerlich bestärkt haben, diesen Schritt zu gehen. Weniger verletzlich bin ich, obwohl ich diese Entscheidung bewusst getroffen habe, dennoch nicht. Schutzmechanismen habe ich dieses Mal keine – weil es so ein offenes, ein fragendes Schreiben ist. Den Schutzmechanismus des Humors habe ich jedenfalls sehr bewusst diesmal nicht gewählt. Es ging auch darum zu sehen, was geschieht, wenn ich ungeschützt schreibe. Jetzt muss ich damit umgehen.

An einer Stelle schreiben Sie „Erinnerungen legen wir uns zurecht in erzählbare Geschichten“ – immer wieder werden Differenzen beim Erinnerten in der Familie thematisiert. Kann es denn eine Wahrheit beim Erinnern an Persönliches geben?
Nein, natürlich nicht. Erinnerungen sind immer subjektiv, immer verfärbt, immer verschwommen, immer eigen. Wenn wir sie in Worte kleiden, schreiben wir sie gleichzeitig auch um. Jede Geschichte lässt sich auf so viele verschiedene Weisen erzählen – die lassen sich gar nicht aufzählen. Dessen wollte ich mir beim Schreiben bewusst sein: Dass ich auch andere mit-erzähle.

Sie sind in Sankt Petersburg geboren und Anfang der 90er Jahre mit Ihren Eltern nach Deutschland gekommen. Sie schreiben auf Deutsch, Ihre Muttersprache ist Russisch, im Text begegnen einem immer wieder russische Sätze und Begriffe. Gibt es Dinge, die auf Deutsch nicht geschrieben werden können, die in der inneren Übersetzung untergehen?
Es gibt einfach Momente – Gefühle, aber auch Gegenstände – die sind in der einen oder anderen Sprache besser zu beschreiben, zu benennen. Bei der Übersetzung geht ihnen etwas verloren, auch wenn diese dem Wörterbuch nach stimmt. Das Wort Apfel und das russische Wort dafür, jabloko, lösen bei mir beispielsweise komplett unterschiedliche Bilder und Erinnerungen aus. Über Unterschiede wie diese habe ich nachgedacht, wenn ich über Erlebnisse schrieb, in denen die russische Benennung eine Rolle spielte.

Neben wichtigen Menschen und Beziehungen geht es in Ihrem Roman auch um Dinge, die voller Erinnerungen stecken: Der kleine Hängeschrank, der gelbe Aktenkoffer, das Schachspiel ... wie wichtig sind diese Gegenstände für die Erinnerung? Im Roman schlägt Ihre Freundin ja vor, das Schränkchen als „conversation piece“ in der Wohnung zu platzieren ...
Die Gegenstände lösen etwas aus, sofort. Man sieht etwas und hat sofort ein Gefühl. An denen hänge ich, obwohl sie nicht im objektiven Sinne als „wertvoll“ zu bezeichnen sind, und vielleicht, weil wir nicht so viele mitgebracht haben, weil ich nicht so viel habe, was ich eines Tages erben kann, was mich an meine Familie erinnert, haben sie einen besondereren Wert. Ich habe Kisten für meine Kinder mit Erinnerungen aus ihrer Kindheit, aussortiertem Spielzeug, Lieblings-T-Shirts – die Kisten sind jetzt schon voller als das, was ich aus meiner Kindheit habe.

Sie haben mittlerweile neun Bücher veröffentlicht, sind eine erfolgreiche Schriftstellerin und gefragte Gesprächspartnerin, Ihr Roman „Hochzeit in Jerusalem“ war für den Deutschen Buchpreis nominiert, „Mehr Schwarz als Lila“ für den Deutschen Jugendbuchpreis. Haben Sie sich mit Ihren Büchern „hinausgeschrieben aus allem“, wie es im Roman einmal heißt? Oder vielmehr hinein?
Hinaus geschrieben? Das klingt nach einem abgeschlossenen Prozess. Ich weiß nicht, ob er das ist. Das Schreiben ist jedenfalls eine selbstbewusste Tätigkeit, es ist das, was mich ausmacht, aber es ist kein Beweis mehr, kein Versuch. Obwohl ich beim Schreiben immer etwas versuche. Aber ich tue es nicht mehr ängstlich, ich kann vielleicht selbstbewusster scheitern. Insofern, vielleicht, ein Stückchen jedenfalls: Hinaus geschrieben.

„Die schönen Dinge im Leben muss ich mir selbst beibringen“, heißt es im Buch einmal; was sind diese schönen Dinge heute für Sie bzw. worauf freuen Sie sich – nach Corona – am meisten?
Nicht auf die Dinge. Auf die Menschen. Am allerallerallermeisten. Freund:innen zu umarmen. Jemandem beim Lachen spontan die Hand auf die Schulter zu legen. Auf Menschen im Saal, wenn ich vorlese – nicht irgendwo auf dem Bildschirm als Kästchen. In die Augen von Menschen zu blicken, auf eine überfüllte U-Bahn, auf die Schlange zur Toilette im Theater, auf Plätze, an denen man sitzen kann und die anderen beim Kaffeetrinken/Spielen/Sprechen/Leben beobachten. Auf neue Menschen. 

Vielen Dank für das Gespräch!



Gorelik

Wer wir sind
Lena Gorelik
Verlag Rowohlt Berlin
Hardcover, 320 Seiten
ISBN 978-3-7371-0107-3
Euro 22,– (D), Euro 22,70 (A)
auch als E-Book

Lena Gorelik, 1981 in Sankt Petersburg geboren, kam 1992 mit ihren Eltern nach Deutschland. Regelmäßig schreibt sie Beiträge zu gesellschaftlichen Themen, u.a. für die „Süddeutsche Zeitung“ oder „Die Zeit“. Lena Gorelik lebt in München.