
Heliopolis – Heiligste Stadt und Zentrum der altägyptischen Welt
Im ersten Jahrtausend v. Chr. stand in Heliopolis der größte und einer
der bedeutendsten Tempel des Alten Ägyptens. Was einst die heiligste Stadt Ägyptens war, der Ursprung der Welt, liegt nun größtenteils vergessen unter einem Stadtteil der Metropole Kairo. Viele tausend Quadratmeter sind von illegaler Bebauung überwuchert, es häufen sich Müllberge. Trotzdem arbeitet ein deutsch-ägyptisches Team seit mehr
als zehn Jahren daran, zu retten, was zu retten ist.
Wir haben mit Ausgrabungsleiter Dietrich Raue über die mythische,
kulturelle und geschichtliche Bedeutung dieses einzigartigen Fundorts gesprochen.
Herr Dr. Raue, die altägyptische Tempelanlage von Heliopolis stand jahrhundertelang im Zentrum ägyptischer Schöpfungsmythen. Können Sie uns mehr darüber berichten?
Die Geschichte dieses Tempels hängt eng mit einer der ältesten Fragen der Menschheit zusammen: Wie entstand die Welt? Und wo stehen wir als Menschheit in diesem Prozess? Die Antwort der altägyptischen Kultur lautet: Alles auf Erden ist ein Spaltungsprodukt der Urmaterie, des Alls – Atum genannt. Am Ende der Aufspaltung steht das Königtum als logisches Produkt. Genau dies beschert dem Platz eine Kontinuität von gut 2400 Jahren an Herrschaftsinvestitionen. Bis in das 4. Jahrhundert v. Chr. hinein muss der Herrscher Ägyptens den Segen des Schöpfer- und Sonnengottes einholen.
Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit Heliopolis zu beschäftigen?
Während des Studiums stieß ich eher zufällig auf den Umstand, dass Heliopolis zwar in einer Vielzahl von Texten erwähnt wird, aber dass man über den eigentlichen Ort sehr wenig wusste. Schon die ersten Schritte zeigten, dass auch mehr erhalten sein könnte, als man es bis dahin für möglich hielt. Seit 1993 hatte ich erstmals mit den ägyptischen Kollegen vor Ort zusammenarbeiten dürfen – und hieraus entwickelte sich die aktuelle ägyptisch-deutsche Unternehmung.

Zwischen 1993 und 1996 hatte ich alle Quellen, die über Heliopolis berichteten, gesammelt. Viele wichtige Denkmäler, z.B. einige der Obelisken in Rom, waren ja schon in der römischen Kaiserzeit abtransportiert worden. Meine Anstellung am Deutschen Archäologischen Institut in Kairo erlaubte es, in den Jahren 2000 – 2010 den Kontakt mit den ägyptischen Kollegen zu halten. In den Monaten nach der Revolution, ich war 2010 an das Ägyptische Museum nach Leipzig ge- wechselt, trat das Ägyptische Antikenminis- terium mit dem Angebot einer Kooperation zum Schutz des gefährdeten Tempelgebiets an uns heran. Seither füllen wir sukzessive die Leerräume mit archäologischen Informationen. Heliopolis besaß einen Bezirk von 1100 x 650 m. In seiner südlichen Hälfte befand sich eine Vielzahl von Göttertempeln. Dieses System beginnen wir nun mit unseren Neufunden zu verstehen. Hierzu gehören sakrale Einheiten, die, wie etwa der Tempel Ramses‘ II. für Amun und Mut zuvor gänzlich unbekannt waren. Und noch sind gut 400 x 400 m im Tempelgebiet vollkommen unerforscht.
Lange vor der Christianisierung verlor der Tempel seine Bedeutung und wurde abgerissen. Dennoch bildeten sich bis in die islamische Zeit Legenden und Geschichten um Heliopolis. Wie erklären Sie sich das?
Der Sonnenlauf galt als gefährdet. Die altägyptische Antwort war eine exakte Beobachtung der Weltfunktionen, eine frühe Form der Naturwissenschaft. Durch den Tempelkult hatte der König den Sonnengott zu unterstützen, hier wurde die Welt so besungen, wie sie sein sollte. Daraus entwickelte sich ein Wissen, aufgrund dessen antike Autoren es für möglich hielten, dass Geistesgrößen wie Pythagoras oder Platon Studienaufenthalte in Heliopolis absolviert hatten. Hinzu kommt die Sehnsucht nach dem Urzustand ohne Unrecht. Sie führte zur Annahme einer Gerichtsbarkeit, die unter dem Sonnengott das Recht für Ägypten durchsetzt. Die Legenden zu Heliopolis umkreisen damit zwei Themen: die gerechte Versorgung der Menschen auch und besonders nach dem Tod und unverfälschte Weisheit einer ganz besonderen Qualität.
Vielen Dank für das Gespräch!

Reise zum Ursprung der Welt
Dietrich Raue
Verlag wbg Philipp von Zabern
Hardcover, 384 Seiten
ISBN 978-3-8053-5252-9
Euro 32,– (D), Euro 32,90 (A)
auch als E-Book
*Alle Abb. stammen aus dem vorgestellten Buch
Dietrich Raue ist Kustos des Ägyptischen Museums, Leipzig, und Co-Direktor der internationalen Ausgrabungen im Sonnentempel von Heliopolis.
Dietrich Raue ist Kustos des Ägyptischen Museums, Leipzig, und Co-Direktor der internationalen Ausgrabungen im Sonnentempel von Heliopolis.