
Die ideale Ferienlektüre
Soll man mit einem Bergbuch in die Bergferien und mit einem Abenteuerroman auf die Safari? Welches ist die ideale Ferienlektüre? Ein Erfahrungsbericht von Rainer Moritz.
Lesen verbindet, sagt man, und manchmal stimmen Kalendersprüche sogar. Denn Irmgard und ich sind ein eingespieltes Team. Zwei Wochen im Jahr bilden wir eine verschworene Feriengemeinschaft, in einem Südtiroler Berggasthof, den wir Bad Dreikirchen nennen wollen. Gewiss, unsere Familien – also nicht: unsere Familie – dürfen auch mitkommen. Doch spätestens wenn sich die letzten Gewitter über dem Eisacktal verzogen haben und sich die von der Höhenluft ermatteten Hotelgäste nach und nach gähnend verabschieden, schlägt die Stunde für Irmgard und mich. Gegen halb elf sind wir die Letzten auf der Veranda. Ildikó, die unermüdlich freundliche Regentin des Services, hat uns ein letztes Glas Wein, Weißburgunder und Lagrein dunkel, gebracht, und ohne Absprache beenden Irmgard und ich jedes Gespräch, um mit einem leisen Seufzer des Wohlbehagens in unsere Lektüren zu versinken, so tief, wie wir es nur in den Ferien zu tun vermögen, und so freudig, wie es nur in den Ferien gelingt.
Wer es gewohnt ist, die Ferien nicht nur mit körperertüchtigenden Tätigkeiten wie Wandern, Schwimmen, Golfen oder Radfahren zu verbringen, befasst sich monatelang im Voraus damit, welche Bücher dieses Jahr die Gunst erlangen werden, mit in die Ferien zu dürfen. Hierbei gibt es vieles zu bedenken. Sind die kostbaren Sommerwochen wirklich dazu angetan, die großen Leseversäumnisse des Lebens endlich zu beseitigen und Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“ oder Hermann Brochs „Die Schlafwandler“ in den Koffer zu packen?
Ja doch, gewiss, das wäre die einmalige Chance. Doch ist es nicht vernünftiger, realistisch zu bleiben und vorherzusehen, dass uns bei der Mann- oder Broch-Lektüre auf der Sonnenliege alsbald eine lähmende Müdigkeit überfallen und die Aufgabe uns wieder einmal über den Kopf wachsen wird? Mit stillem Vorwurf würden uns die beiden dicken Bände alsbald anstarren – und erst recht, wenn wir sie erneut ungelesen wieder mit nach Hause nähmen. Eine derartige psychische Belastung sollte man in den Ferien tunlichst vermeiden. Deshalb lassen wir Mann und Broch lieber dort, wo sie seit langem ihren guten Zweck tun und Staub fangen. Andererseits ist es ein erhebendes Gefühl, nach Jahren auf ungewöhnliche Leseleistungen zurückzuschauen. Noch heute, Jahrzehnte später, blicke ich voller Selbstbewunderung auf mich und auf mein Exemplar von Adalbert Stifters voluminösem Roman „Witiko“. Diesen las ich – was für eine kühne Idee! – als Student während eines Campingurlaubs in der Bretagne. Es regnete unablässig.
Die Frau, die damals an meiner Seite war, und ich hoben allabendlich Abflussrinnen rund ums Zelt aus, damit die Wassermassen von unseren Luftmatratzen Abstand nahmen. In dieser urgemütlich feuchten Atmosphäre quälte ich mich Tag für Tag durch Stifters ein klein wenig langatmigen böhmischen Mittelalterroman, und am Ende der bretonischen Tage hatte ich es geschafft. Die monotone Wetterlage hatte zum Glück kaum andere Freizeitbeschäftigungen zugelassen. Oder Canettis „Blendung“: Bis auf diesen Tag rieseln, wenn ich mein zerknautschtes Fischer-Taschenbuch aus dem Regal ziehe, feine Sandkörner aus den Seiten. Kretische Sandkörner, um genau zu sein, denn mit diesem Exemplar lag ich einst – neben der Frau, mit der ich damals zusammen war – am Strand unweit von Chania und ackerte mich durch Canettis Geschichte einer am Ende brennenden Bibliothek. Währenddessen trat ich in einen Seeigel, was einen nervenaufreibenden Besuch bei einem keiner Fremdsprache mächtigen griechischen Arzt notwendig machte, aber das ist eine andere Geschichte. Canettis mit Sandkörnern angereicherte „Blendung“ genießt seitdem einen Sonderstatus unter meinen Büchern.
Mit oder ohne Jelinek
Lesen erlaubt, insbesondere in den
Ferien, soziale Distinktionen vorzunehmen. Nur charakterlich sehr starke Menschen lesen, was ihnen passt, ohne Rücksicht auf die anderen. Da gibt es diejenigen, die – um mitreden zu können – einen Stapel Neuerscheinungen, die druckfrischen Werke von Anne Tyler, Robert Seethaler oder Juli Zeh zum Beispiel, im Gepäck haben und diese demonstrativ beim Frühstück neben ihr Rührei legen. Oder diejenigen, die vor lauter Intellektualität kaum laufen können und uns wissen lassen, dass sie sich Ferien ohne den neuen Essay von Slavoj Žižek oder die aufwühlenden Theaterstücke Elfriede Jelineks nicht vorstellen können.
Ich gestehe, dass ich solche Leute meide. Es ist mir in den Ferien zu anstrengend, Žižek- oder Jelinek-Dispute zu führen, und so gehe ich diesen Beflissenen aus dem Weg, tausche mich mit ihnen allenfalls über den Ermüdungsgrad der Wandertouren zum Rittner Horn aus. Spätestens wenn ich aber aus Trotz, in einer Art Anti-Žižek-Haltung, beginne, ihnen die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Weißbiersorten auseinanderzusetzen, meiden mich diese Leute wiederum, da ich offenkundig ihre Niveaumesslatte nicht erreiche. Unter diesem Gesichtspunkt begrüsse ich es übrigens nicht, wenn selbst in meinem abgeschiedenen Südtiroler Domizil vermehrt zu E-Readern gegriffen wird. Denn diese erschweren es, Menschen sofort nach ihren Lektüren zu beurteilen. Ein unauffälliger Blick aufs Cover, auf den Buchrücken – und schon wusste man früher, mit wem man es in den nächsten Tagen zu tun haben würde. Das alles vereitelt ein E-Reader, es sei denn, man neigt zu Indiskretionen und beugt sich dreist über das Lesegerät seines Gegenübers. Manche der Älteren verwenden zum Glück wenigstens große Schrifttypen.
Unterschiedliche Meinungen gibt es bei der Frage, inwieweit die Ferienlektüre passend zum Reiseziel ausgewählt werden soll. Anders gesagt: Will ich nicht nur regionale Produkte essen, sondern auch lesen, also in Südtirol, sagen wir, auf Herbert Rosendorfer und Joseph Zoderer zurückgreifen, selbst auf die Gefahr hin, dass Einheimische, mit denen ich darüber ins Gespräch komme, gar nicht wissen, wer Rosendorfer und Zoderer sind? In meinen jungen Jahren war ich durchaus ein Verfechter ortstypischer Lesestoffe und schleppte nach Griechenland Bücher mit, die mir Land und Leute nahebringen sollten. In Iraklio vertiefte ich mich in Nikos Kazantzakis‘ „Rechenschaft vor El Greco“, und einen Aufenthalt in Rethymno wollte ich mir nicht ohne Pandelis Prevelakis‘ „Chronik einer Stadt“ vorstellen.
Maigret als Nothelfer
Mittlerweile bin ich von diesem Prinzip abgekommen, zumal es triftige Gründe dafür gibt, quasi antizyklisch zu lesen, also Klima und Kolorit des Ferienlandes mit Texten zu kontern, die gar nichts mit Klima und Kolorit des Ferienlandes zu tun haben. So ließen sich wüstentrockene Tunesien- Ferien mit Karen Duves sehr nassem, in Mecklenburg-Vorpommern angesiedeltem „Regenroman“ bereichern, während man sich im feinen Pariser Parc Monceau wieder einmal Erika Runges „Bottroper Protokolle“ oder Ludwig Hohls „Bergfahrt“ zu Gemüte führen könnte. Ja, vieles gilt es zu beachten, wenn man seine Reisetasche mit Büchern füllt. Zu wenige dürfen es auf gar keinen Fall sein, denn selbst in sonnigsten Ferienparadiesen ist mit garstiger Witterung zu rechnen, die gewissermaßen zum Lesen zwingt. Und wer wie ich keine Lust hat, sich ständig mit Menschen, die oft wildfremde Menschen sind, zu unterhalten – das muss ich zu Hause oft genug –, der führt stets eine eiserne Reserve mit sich. Einen Stoß Maigret-Romane beispielsweise, die gehen immer. Irmgard und ich sind sehr geübte Ferienleser. Wenn wir spätabends den Sternen oder dem fernen Wetterleuchten zusehen, ist jeder Handgriff vertraut. Ich rauche ein Zigarillo, Irmgard eine Zigarette, was sie erst tut, wenn die Kinder, die nicht alle Laster ihrer Mutter mitbekommen sollen, zu Bett gegangen sind. Und dann lesen wir, ohne Worte mitein-ander zu wechseln. Irmgard oft ent- legene kunsthistorische Werke und ich ein paar alte und ein paar neue Romane, Eduard von Keyserlings „Abendliche Häuser“ vielleicht und Michael Ondaatjes „Kriegslicht“. Das könnten perfekte Ferien werden.
Erstveröffentlichung in der Neuen Zürcher Zeitung vom 09.07.2018; © Neue Zürcher Zeitung AG