Abel

Eine große Liebe in düsteren Zeiten

Liebe Frau Abel, Ihr Debütroman „Stay away from Gretchen“ ist eine (Familien-)Geschichte über Liebe und Menschlichkeit, die lange nachwirkt. Im Mittelpunkt steht Greta, die in der Jetztzeit des Romans mit Mitte 80 in die Demenz abgleitet. Was hat Sie zu dieser so lebendig gezeichneten Figur inspiriert?
Meine Mutter litt an Alzheimer. In den 12 Jahren ihrer Erkrankung habe ich viele herausfordernde, tragische, aber auch sehr komische und vor allen Dingen emotionale Geschichten mit ihr erlebt. Weil ich jedoch keinen biographischen, oder gar autobiographischen Roman schreiben wollte, habe ich Greta ein sehr anderes Schicksal als das meiner Mutter ge-geben und ihr einen Sohn zur Seite gestellt. Was Greta und meine Mutter verbindet, ist der Verlust der ersten großen Liebe und des ersten Kindes. Und wie Gretas Sohn Tom habe auch ich im Laufe der Krankheit meiner Mutter – als sie wie Greta vergaß, was sie vergessen musste, um weiter-leben zu können – mehr über ihre Vergangenheit erfahren und habe begriffen, wie sehr ihr Schicksal mein Leben geprägt hat.

Ihr Roman schildert detailreich und ergreifend die Lebensbedingungen während des Krieges, auf der Flucht und im Nachkriegsdeutschland. Wieviele Recherchearbeit steckt dahinter?
Ich habe ungefähr ein halbes Jahr recherchiert, bevor ich mit dem Schreiben begonnen habe. Ausschlaggebend für die Idee, Greta aus Ostpreußen fliehen zu lassen, war ein Artikel, der auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle 2015 im SPIEGEL veröffentlicht wurde. Darin wurde das Ausgrenzen von Flüchtlingen aus den deutschen Ostgebieten vor 75 Jahren beschrieben. Dieser Artikel hat mich regelrecht umgehauen, denn die Ressentiments die den Fremden entgegenschlug waren gleich – egal ob sie damals aus Königsberg kamen oder aktuell aus Aleppo. Der Schwerpunkt meiner Recherchen waren persönliche Schicksale – ich habe mich mit vielen Zeitzeugen unterhalten oder ihre Tagebücher gelesen. Diese gelebten Geschichten haben mich nach Heidelberg geführt, wo es in der Nachkriegszeit nur so wimmelte von jungen, afroamerikanischen GIs, die sich zum ersten Mal in ihrem Leben frei fühlten. Und das in einem Land, das den Rassenhass perfektioniert hatte! Ab da war es nicht weit, bis ich das mir völlig unbekannte Thema Brown Baby Plan entdeckte und ich wusste, welche Geschichte ich zu erzählen hatte.

Immer wieder geht es auch um weibliche Selbstbestimmung und Lebensgestaltung. Welche Figur steht Ihnen als Autorin am nächsten?
Ich habe bewusst keinen Mutter-Tochter Roman geschrieben, weil es mir nicht in erster Linie um eine weibliche Sicht geht, sondern um die menschliche. Welche Umstände für ein geglücktes oder gescheitertes Leben verantwortlich sind, zeige ich nicht nur an Greta, sondern auch an den Männern, die in ihrem Leben eine zentrale Rolle spielen: ihrem Vater, der nach Jahren in russischer Gefangenschaft als Fremder zurückkehrt oder Bob, ihrer großen Liebe. Und zu guter Letzt in ihrem Sohn, den die Vergangenheit seiner Mutter geprägt hat. Das junge Gretchen, das sich von nichts und niemandem etwas gefallen lässt, ist mir nah. Sehr nah. Auch die alte Greta, die Opfer ihres schweren Schicksals blieb, ist mir mehr als vertraut. Die Figur jedoch, die mir am allernächsten ist, ist Tom. Ich habe ihn nach meinem kleinen Bruder Thomas benannt, der kurz nach seiner Geburt gestorben ist. Und wenn ich ehrlich sein soll, erwische ich mich manchmal bei dem Gedanken, dass ich gerne einmal einen Kaffee mit ihm trinken würde, oder ein Kölsch. Mit Tom Monderath – und natürlich auch mit Thomas Abel.

Vielen Dank für das Gespräch!



Keller

Stay away from Gretchen
dtv Verlagsgesellschaft
528 Seiten
ISBN 978-3-423-28259-8
Euro 20,– (D), Euro 20,60 (A)