
London – ein literarischen Spaziergang
Poetenwinkel an der Themse
Verkehrte Welt, nicht erst seit Brexit und Pandemie. In London sind die Eintritte in die großen Museen von Wissenschaft und Kunst meist frei, die in die großen Kirchen dagegen, außerhalb der Gottesdienste, kosten richtig Geld. Wer sich also durchringt (oder derzeit wieder durchringen darf), für einen Besuch in der Westminster Abbey 18 englische Pfund (20 Euro) auszugeben, erhält die Erlaubnis, sich im südlichen Querschiff zu der einmaligen „Poets’ Corner“ zu begeben, und dort, gewissermaßen standesgemäß, den literarischen Spaziergang durch die Hauptstadt des (derzeit noch) vereinten Königreichs mit ihren mehr als acht Millionen Einwohnern zu beginnen. Wer auf einer der hölzernen Kirchenbänke Platz nimmt und sich vorbereitet hat, kann sich von Theodor Fontane, der 1852 einen Sommer in London verbrachte, den „Poetenwinkel“ erklären lassen, wo einen „die Geister des Orts“ noch immer in den Bann ziehen und es „wie Flüstern naher und ferner Stimmen“ um einen herum summt. Die englische Literaturgeschichte ist da versammelt, von John Gay, der knapp 200 Jahre nach seinem Tod dem Theaterschreck Bert Brecht mit seiner „Beggars Opera“ zu Weltruhm verholfen hat, über Charles Dickens bis zu einem modernen Neuankömmling, Dylan Thomas aus Wales, dessen Mahnung „Do not go gentle into that good night“ weiterhin bewegt. Die beiden Stars dieses steinernen Theaters sind allerdings der Dramatiker Shakespeare und sein Schauspieler Garrick, und sie widerlegen beide still und dauerhaft die Ansicht, die Nachwelt flechte den Mimen keine Kränze. Das sei auch gar nicht nötig, meint Fontane zuletzt, denn was brauche vor allem anderen Shakespeare, wie Milton meine, „Zeichen, die nur flüchtig sind?“ Sein Denkmal entstehe ...
„immer neu und jung, Die Seele liest dich mit entzücktem Bangen, Wir werden selber marmorn im Empfangen, Und unsre Herzen sind dein Sarkophag, Um den manch König dich beneiden mag.“
Das ist kühn, geradezu ein Shakespeare’scher Einfall, dass die Lebenden versteinern und die Toten sich beleben, und so geht es guter Dinge gleich wieder in die Welt hinaus.
London zu Fuß
Geoff Nicholson hat in seinem Roman „London, London“ (1997) einmal ausgerechnet, auf wie viele Meilen die Straßen Londons zusammen gerechnet kommen; es sind 8318, doch diese Wege lassen sich alle gehen: „Wenn er zehn Meilen am Tag ging, waren das fünfzig Meilen in der Woche, 2500 Meilen im Jahr, also hätte er London in weniger als dreieinhalb Jahren abgedeckt. Das war ein beträchtliches Pensum, aber durchaus machbar.“ Zum Glück gibt es aber auch die U-Bahn, the tube, die einem das Laufpensum ein wenig abnimmt, so auf dem Weg nach Southwark. Alte und neue Zeiten liegen in London dicht beieinander. Das zeigt sehr gut der Nachbau von Shakespeares Globe Theatre, das 1997 mehr als dreihundert Jahre nach seiner Brandzerstörung an anderem Ort, neben der Southwark Bridge, neu erstanden ist. Nun kann man sich wie einst darüber amüsieren, dass die Zuschauer im Trockenen sitzen, während die Schauspieler Wind und Wetter ausgesetzt sind. Nebenan liegt die wunderbare Tate Gallery of Modern Art, von wo aus die Millenium Bridge (2002) hinüber zur St. Pauls Cathedral führt. Die Harry-Potter-Leserwelt weiß, dass im „Halbblutprinz“ die eigentümlich schwingende Brücke von geisterhaften ‚Todessern‘ sogar zerstört wird. Vielleicht als Unheilabwehr werden winzige Stellen der Bodenrillen von einem echten Maler bunt markiert. Die Geisterwelt ist in London allerorten wirksam, man kann nie wissen.
Zu Gast bei Charles Dickens
„Come in! exclaimed the Ghost, come in and know me better, man.”
So steht es in großer Schrift an einer Wand im Museum für Charles Dickens, dem mit 58 Jahren verstorbenen Erzähler der Zeit von Königin Viktoria. Das Haus 48 Doughty Street, das Dickens mit seiner Familie nur zwei Jahre, 1837 bis 1839, bewohnte, ist das einzige von seinen Wohnstätten, das aus diesen Zeiten erhalten ist. Hier schrieb er „The Pickwick Papers“ zuende, hier entstand „Oliver Twist“. Die Besichtigung dieses Hauses, von der Küche im Keller bis zum Dachboden und hinaus in den kleinen Garten mit Brunnen und Bänken gerät zu einer geradezu magischen Lektüre. Was ist wirklich, was ist eingebildet? Im Essraum ist der lange Tisch gedeckt und Stimmen aus versteckten Lautsprechern lassen sich vernehmen, als säße eine Gesellschaft zu Tisch. Eine Schattenfigur weist den Weg die Treppe hinauf. In einem Zimmer des ersten Stocks steht der Schreibtisch mit dem schräg gestellten, abgeschabten Pult, daneben ein Papierkorb samt zusammengeknüllten Entwürfen, ringsum historische Schränke, hinter deren Glasscheiben Manuskripte und aufgeschlagene Bücher locken. Doch gegenüber hängt eine Zeichnung, die den Dichter eingeschlafen in seinem Sessel zeigt, umgeben von den Phantasiefiguren seiner Bücher. So geht es weiter, eine moderne Timeline neben alten Gewändern. Und an der Garderobe fragt ein Schild zum Abschied: „Where would you take Dickens and what would you two do together?” Gute Frage, mit einem Buch „Walking Dickens’ London” geht es gleich weiter, und es ist dann auch kein Wunder, wenn aus heiterem Himmel plötzlich Wassertropfen fallen, gehören sie doch zu Fensterputzern weit oben an einer Glaswand.
Sherlock Holmes Museum
Verwandelt Dickens die Realität in Fiktion, so geht sein viel jüngerer Kollege, der Arzt und Autor Arthur Conan Doyle, den umgekehrten Weg und verleiht seiner erfundenen Figur des Detektivs Sherlock Holmes eine solche Realität, dass ihr heute sogar ein ganzes Haus gewidmet ist, The Sherlock Holmes Museum an der Baker Street. Hier stimmt noch nicht einmal die Hausnummer 221b, zwischen den richtigen Nummern 237 und 241. Auch der Polizist vor der Tür, der wachsame Bobby mit dem markanten Konstabler-Helm, ist nur ein verkleideter Schauspieler. Das Haus selbst ist vollgestopft mit Bildern und Requisiten. Im ersten Stock ist eine Wohnung rekonstruiert worden, in der Sherlock Holmes und sein Assistent Dr. Watson von 1881 bis 1904 gewohnt haben sollen. Man zeigt dort in einer Vitrine Holmes’ „Supporting Cast“: Mütze, Pfeife, Lupe, Maßband, Pistole – von Holmes (und Watson) zu James Bond (und Mr. Q) geht ein direkter Weg. Im Dachstübchen steht die Zeit still, Wachsfiguren sind bei Mord und Totschlag erstarrt, und Conan Doyle schreibt alles auf. Das schräge Wesen setzt sich nebenan im Holmes-Shop nahtlos fort. Dort gibt es allen nur erdenklichen Krimskrams, bis zum Holmes’schen Badeentchen.
Harry Potters Winkelgasse
Schein und Sein gehen in London also unablässig ineinander über. Im Garten des Dickens-Museums erinnert eine kleine bemooste Schwelle (original step) daran, dass auf ihr die Heldin und ihr Ehemann am Ende von „Little Dorrit“ gestanden haben sollen. Das sieht aber nur derjenige, der das weiß, also das kleine Schildchen darüber entdeckt. Es gibt aber auch Häuser, die nicht jeder sieht, etwa in der Gegend um den Bahnhof King’s Cross. Harry-Potter-Fans wissen: Hier liegt die Winkelgasse, die Londoner Zaubererstraße; in sie gelangt nur,
wer hinter dem Pub „Zum Tropfenden Kessel“ an einer alten Mauer einen bestimmten Backstein mit dem Zauberstab berührt. Ebenso erreicht man als Zauberlehrling den Hogwarts-Express im Bahnhof nur, wenn man zwischen den Gleisen 9 und 10 Anlauf nimmt, auf einen Pfeiler zurennt, samt Kofferwagen und Vogelkäfig durch die Wand fährt und auf Gleis 9¾ landet. Wem das alles zuviel ist, der sollte einen Nachmittag auf dem Highgate Cemetery verbringen, wo Karl Marx ebenso seine letzte Ruhe gefunden hat wie die Familie Dickens und John Galsworthy.
Couch und Nachtigall
Kein London-Besuch aber darf zu Ende gehen ohne die Fahrt zum Museum für Sigmund Freud, den Begründer der Psychoanalyse, im Stadtteil Hampstead. Von der U-Bahn-Station Finchley Road geht es ein wenig den Hügel hinan, vorbei an der Freud-Statue von Oscar Nemon (1971). Das Haus 20 Maresfield Gardens ist bald erreicht, Freuds „last adress on this planet“. Anfang Juni 1938 hatte der hochbetagte und kranke Arzt mit seiner Familie aus dem von den Nazis besetzten Österreich ausreisen können; ein Jahr später ist er hier gestorben. Sein Haus in Hampstaed ist nun das Gegenstück zum Wiener Freud-Museum in der alten Wohnung, Berggasse 19. In London steht die berühmte Couch, die für so viele den Weg zum Unbewussten eröffnete, und ist eine Traumpforte zur Unterwelt wie einst für Odysseus und Äneas. Freuds Sammlung ägyptischer, griechischer und römischer Antiquitäten ergänzt diese Wunderwelt. Dazu gehört noch ein altes Lied. Nicht weit von Freuds letzter Adresse hat der englische Romantiker John Keats im Mai 1819 in dem heute nach ihm benannten Haus (10 Keats Grove) seine berühmte „Ode to a Nightingale“ gedichtet. Sie endet mit denjenigen Versen, die unser aller Erleben betrifft, hier wie dort:
„Was it a vision, or a waking dream? Fled is that music: – do I wake or sleep?“
Literaturhinweise
Sanfte Träume hält der Tag bereit – Die schönsten Briefe und Gedichte
John Keats
Insel Taschenbuch Verlag
Paperback, 195 Seiten
ISBN 978-3-458-68135-9
Euro 11,– (D), Euro 11,40 (A)
Lieblingsorte: London
Ulrike Draesner
Insel Taschenbuch Verlag
Paperback, 219 Seiten
ISBN 978-3-458-36171-8
Euro 12,– (D), Euro 12,40 (A)
Made in London
Leah Hyslop
Südwest Verlag
Hardcover, 304 Seiten
ISBN 978-3-517-09782-4
Euro 25,– (D), Euro 25,70 (A)
Oliver Twist – Mit den Illustrationen der Erstausgabe
von George Cruikshank
Charles Dickens
Aus dem Englischen von Gustav Meyrink
Deutscher Taschenbuch Verlag
Paperback, 480 Seiten
ISBN 978-3-423-13616-7
Euro 9,90 (D), Euro 10,20 (A)
Harry Potter und der Halbblutprinz
J.K.Rowling
Carlsen Verlag
Hardcover, 640 Seiten
ISBN 978-3-551-55746-9
Euro 24,99 (D), Euro 25,70 (A)
London. Porträt einer Stadt
Reuel Golden
Taschen Verlag
Hardcover, 552 Seiten
ISBN 978-3-8365-2877-1
Euro 50,– (D/A)
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