
Leipzig
Provinzzauber von einst
„Privat oder kommerziell?“ Die Frage der Aufseherin im Alten Rathaus nach dem Zweck des geplanten Artikels zeigt, dass die alte Messe- und Buchstadt Leipzig sich trotz aller zeitgeschichtlichen Veränderungen im Kern treu geblieben ist. Man hat die Händler und Reisenden aus allen Richtungen hier immer schnell taxieren müssen, um entsprechend entscheiden zu können. Nach Bombenkrieg und DDR-Zeit hatte es seine guten Gründe, dass die Wende 1989 wesentlich von Leipzig ausging: Man war und ist hier einfach in jeder Hinsicht beweglicher als anderswo. So hat sich auch der „Provinzzauber von einst“, den die Lyrikerin Ingeborg Bachmann bei einem Besuch 1960 wahrnahm, trotz vieler Veränderungen auf eigentümliche Weise erhalten. Die Altstadt der ‚urbs Lipzi’, des auf 118 Metern gelegenen ‚Lindenorts’ an Elster, Pleiße und Parthe, lässt sich vom Hauptbahnhof mit seiner dreigeschossigen Ladenstraße bequem zu Fuß erreichen. Die Stadtmauern sind längst Grünanlagen entlang eines Straßenrings gewichen, auf dem sich im Herbst 1989 die Demonstrationen der Hunderttausenden friedlich ergehen konnten.
Das am Markt wieder aufgebaute Alte Rathaus (1556) mit dem Stadtgeschichtlichen Museum ist auch in literarischer Sicht der unverzichtbare Ausgangspunkt für die Erkundung Leipzigs. Man sieht hier nicht nur das erste in Leipzig gedruckte Buch, eine Warnung vor dem Trinken, sondern erfährt, dass die Lehre Luthers von Leipzig aus per Buchdruck in alle Welt ging. Ein scharfes Richtschwert erinnert an den Leipziger Perückenmacher Johann Christian Woyzeck, der als Mörder einer Witwe im August 1824 auf dem Alten Markt, gleich vor dem Alten Rathaus, hingerichtet wurde. Seltsamer Blick von der Vitrine unter den Fenstern auf den heutigen Marktplatz. Das Schicksal des armen Woyzeck inspirierte den jungen Georg Büchner 1836 zu einem berühmten Dramenfragment, das wiederum zu einer Oper und zu mehreren Filmen Anlass gegeben hat.
Goethe, Faust und Ringelnatz
Hinter dem Alten Rathaus, auf dem so genannten Naschmarkt, steht vor der Alten Börse (1687) das Goethe-Denkmal von Carl Seffner (1903). Es ‚stimmt’ zwar nicht, ist eine mehrfache Stilisierung, aber Goethes Aufenthalt 1765/68 als Jurastudent musste im Nachhinein ebenso werbewirksam gewürdigt werden wie der legendäre Leipziger Schauplatz in Goethes „Faust I“, „Auerbachs Keller“ in der Mädler-Passage, dem Denkmal gerade gegenüber. Merkwürdig fremd wirken dort die Bronzefiguren von Faust und Mephisto auf der einen Seite, sowie den verzauberten Studenten auf der anderen, noch dazu, wenn auf Werbetafeln „Mephistos Austerntreff“, „Mephistos Kaffeeklatsch“ und eine „Mephisto-Torte“ angepriesen werden. Dass ein Jahrhundert später der Philologe und Philosoph Friedrich Nietzsche in Leipzig studierte, und sich sein Schicksal wiederum in den Leipzig-Passagen des „Doktor Faustus“-Romans Thomas Manns spiegelt, wäre jedenfalls eher eine Erwähnung wert.
Etwa so, wie am Alten Rathaus Robert Blums gedacht wird, eines demokratischen Freiheitskämpfers, dessen sich die junge DDR 1948 anlässlich seines 100. Todestages zu Recht erinnerte. Ein Verdienst des in Wien hingerichteten revolutionären Politikers war die Gründung des Leipziger Schillervereins (1842), dem die Erhaltung des Schillerhauses in Gohlis zu verdanken ist. Eine andere, ebenso leicht zu übersehende Tafel erinnert auf der Rückseite des Alten Rathauses an zwei „Leipziger
Dichter, die in heiterem Wort und vertrautem Klang ihrer Heimatliebe ein köstlich Denkmal setzten“; gemeint und sogar abgebildet sind Edwin Bormann und Georg Bötticher, der Vater desjenigen Hans Bötticher aus Wurzen, den alle Welt nur als Matrosendichter „Joachim Ringelnatz“ kennt!
Leibniz, Bloch und Mayer
Gleich neben „Auerbachs Keller“ erinnert heute das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig an die deutsche Nachkriegsgeschichte der
DDR. Literatur spielt hier keine große Rolle, dafür sind im Raum offenbar alte Abhörmagnete der so genannten ‚Staatsicherheit’ noch derart stark aktiv, dass mitunter
moderne Funkuhren den Dienst aufgeben.
Wenige Schritte sind es zur Nikolaikirche
und der Alten Nikolaischule (heute Gasthaus). Hier lassen sich die Schultage berühmter Leip-ziger Schüler von einst erinnern, vom Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz über den „Wanderer nach Syrakus“ Johann Gottfried Seume bis zum Komponisten Richard Wagner und dem Politiker Karl Liebknecht. Zwischen Schulhaus und der Nikolaikirche, dem Ort, an dem die Wende mit Friedensgebeten 1982 ihren Ausgang nahm, steht eine hohe Säule, deren grüne Palmwedel die Kapitellformen der Säulen in der Kirche aufnehmen und ‚frei’ in den Himmel jubeln. Wenn man dann noch erfährt, dass die Säule auch vom modernen Gästehaus der Universität Leipzig an der Ritterstraße aus zu sehen ist, wo sich einst die Buchhändlerbörse befand, grüßt auch an dieser Stelle die alte Buch- und Verlagsstadt Leipzig herüber.
Die nach Heidelberg zweitälteste deutsche Universität von 1409 ist inzwischen 610 Jahre alt. Wie gut, dass es nicht erst dieses Anlasses bedurfte, den Philosophen Ernst Bloch 2004 mit einer eigenen Ausstellung zu ehren; immerhin entstanden in Blochs Leipziger Jahren von 1949 bis 1961 in seiner Wohnung an der Wilhelm-Wild-Straße 8 zwei Hauptwerke, das Hegel-Buch „Subjekt-Objekt“ (1951) und „Das Prinzip Hoffnung“ (1954–59). Eine Gedenktafel erinnert seit 2014 daran. Seinem Kollegen und Schicksalsgenossen, dem Philologen Hans Mayer, Monograph Thomas Manns und Lehrer Uwe Johnsons, ist diese Ehre zwar noch nicht zuteil geworden; dafür hat die Stadt Leipzig Hans Mayer 2001 zu ihrem Ehrenbürger ernannt; und schon im März 2005 wurde an Mayers ehemaligem Wohnhaus an der Tschaikowskistraße 23 eine Gedenktafel (Entwurf Gerd Wunderlich) für ihn in Anwesenheit des damaligen Leipziger Oberbürgermeisters Wolfgang Tiefensee enthüllt.
Um die Pfeffermühle herum
Die literarische Erkundung des neuen alten Leipzig führt zur Trutzburg der neuen „Galeria Kaufhof“ mit der Gedenktafel für die „Große Feuerkugel“ (zerstört 1943), einem „Messehof mit Gasthof und Mietshäusern“ mit berühmten Logiergästen, darunter Lessing und Goethe. Man kommt zur Thomas-Kirche mit dem Denkmal für Johann Sebastian Bach, erinnert sich der Wiederentdeckung des großen barocken Komponisten im frühen 19. Jahrhundert durch Felix Mendelssohn-Bartholdy und ehrt erst recht das Andenken des Leipziger Oberbürgermeisters Carl Friedrich Goerdeler, der 1937 die Zerstörung des Mendelssohn-Denkmals vor dem Gewandhaus zum Anlass für seinen Rücktritt nahm. Am Neuen Rathaus erinnert seit Herbst 1999 ein Denkmal an den aufrechten Mann. Von der Thomas-Kirche war es nicht weit zum Domizil der „Pfeffermühle“. Das Leipziger Kabarett (1954) spielte, in der Nachfolge des gleichnamigen Ensembles von Erika Mann und Therese Giehse (1933), lange im Haus des alten Hotel Kosmos an der Gottschedstraße 1 und befindet sich heute sieben Gehminuten entfernt an der Katharinenstraße 17.
Den Martin-Luther-Ring hinunter, vorbei an einem fast schon verwitterten Gedenkstein für Theodor Körner, kommt man ins Musikviertel mit dem alten Reichsgericht, später Museum und heute Bundesverwaltungsgericht. Oberreichsanwalt war dort in den Zwanziger Jahren Ludwig Ebermayer, der Vater des Schriftstellers und Freundes von Thomas und Klaus Mann, Erich Ebermayer. Das stattliche Haus der Familie Ebermayer in der Leibnizstraße 27 ist erhalten und saniert.
Gleich hinter dem Reichsgericht befindet sich als Einrichtung der Universität an der Wächterstraße 34 das einzigartige Deutsche Literaturinstitut Leipzig, Nachfolger des Literaturinstituts Joannes R. Becher, das sich von 1955 bis 1995 in einer großbürgerlichen Villa (heute Kinowelt) an der jetzigen Karl-Tauchnitz-Straße befunden hatte. Vorbei am Neuen Rathaus kommt man sodann vor der Moritzbastei in eine Grünanlage mit Denkmälern für den Aufklärer und Leipziger Poesie-Professor Christian Fürchtegott Gellert (1909) und vor allem zum Schiller-Denkmal vom Mai 1914. Die hohe Stele mit dem langhaarigen Porträtkopf eines Popstars, umgeben von zwei Sockelfiguren, einem nackten Mann und einer nackten Frau, ist sicher das gewagteste und zugleich schönste und modernste Schiller-Denkmal, nicht nur in Leipzig.
Schillers Ehrenpforte
Der junge Schiller war im April 1785 nach Leipzig gekommen, auf Einladung Christian Gottfried Körners, dem Vater des Freiheitsdichters, der Schillers Nöte lindern half. Nach einem Monat im Gasthaus „Kleines Joachimsthal“ in der Hainstraße 5, wo er 1789 mit seiner späteren Frau Charlotte von Lengefeld logierte (weshalb das Haus mit zwei Kupfermedaillons des Ehepaars verziert ist), zog Schiller im Mai 1785 auf Vermittlung des Verlegers Göschen in das nahe Dorf Gohlis und blieb im Haus des Bauern Schneider an der Menckestraße 42 bis zum 11. September 1785. In dieser Zeit arbeitete der junge Mann an der Ode „An die Freude“ und an seinem Schauspiel „Don Karlos“ (das 1787 in Dresden fertig wurde). Mit Blick auf verschiedene weitere Aufenthalte Schillers in Leipzig bis 1801 führte der nationale, anti-napoleonische „Schillerkult“ nach dem Tod des Dichters in Leipzig 1842 zur Gründung des revolutionär gedachten Schillervereins, der sich wiederum zur Aufgabe machte, das Schillerhaus in Gohlis zu einer Gedenkstätte einzurichten und mit einer „Ehrenpforte“ vor den anderen Bauernhäusern der Umgebung aufzuwerten. Nach gründlicher Restaurierung steht das älteste Dichterhaus Deutschlands heute Besuchern offen und lässt sich mit seinem Garten für vielfältige Veranstaltungen nutzen.
Prunkstück des Hauses ist eine seidene Weste, die Schiller nachweislich getragen hat. In der kahlen Stube mit dem marmornen Schiller-Kopf fehlt auf einem wackligen runden Tisch, der ebenfalls Schiller zugeschrieben wird, nur noch ein Reclam-Heftchen aus einem der historischen Bücherautomaten, wie er im Reclam-Museum an der Kreuzstraße 12 seit Oktober 2018 zu bewundern ist.
Fotos: © (Auerbachs Keller) Auerbachs Keller Leipzig GmbH, (Mädler-Passage) Mädler-Passage Leipzig Grundstück GmbH & Co. KG