Fontane als Wanderer in Neuruppin

Brecht segnet Berlin

LITERARISCHER SPAZIERGANG
Brecht als Literaturgott: Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs blickt der Dramatiker von Schweden aus in dem weniger bekannten Exilgedicht „Über Deutschland“ (1939) auf all diejenigen deutschen Landschaften und Städte herab, die es wert wären, den Weltuntergang zu überstehen. So etwa die „freundlichen bayrischen Wälder, / ihr Mainstädte / Fichtenbestandene Rhön, du, schattiger Schwarzwald“. Und, fährt er fort, warum sollten nicht auch „Thüringens rötliche Halde, sparsamer Strauch der Mark und / Ihr schwarzen Städte der Ruhr, von Eisenkähnen durchzogen“ bleiben dürfen? Und auch, legt er gleich großzügig fest, „ihr / Hanseatische Häfen bleibt und Sachsens / Wimmelnde Städte, ihr bleibt und ihr schlesischen Städte / Rauchüberzogene, nach Osten blickende, bleibt auch.“ Vor allem aber, und als einzige Stadt namentlich genannt, darf Berlin überleben: „Auch du, vielstädtiges Berlin / Unter und über dem Asphalt geschäftig, kannst bleiben“.

Der Segensspruch ging trotz furchtbarer Kriegszerstörungen, jahrelanger Vierteilung und jahrzehntelanger Mauertrennung letztlich doch in Erfüllung. Seit 2001 besteht Berlin zwar nur noch aus 12 (statt vorher 23) Bezirken, aber die etwa 3,5 Millionen Einwohner sind noch immer „vielstädtig“ verteilt: Mehr als 100.000 Einwohner leben beispielsweise allein in den Bezirken Charlottenburg, Schöneberg und Wilmersdorf. Brandenburger Tor Doch selbst wenn Berlin tatsächlich einmal ganz verschwinden und sich der Vers aus Brechts Ballade „Vom armen B. B.“ in der „Hauspostille“ (1927) bewahrheiten sollte: „Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind!“ – so könnte man es aus der umfangreichen schönen Literatur, aus Romanen, Novellen und Gedichten ziemlich gut und umfassend wieder aufbauen. Es wäre vielleicht nicht mehr ganz zeitgemäß, aber auf jeden Fall echt.

Der O-Ton in Döblins Großstadtroman „Berlin Alexanderplatz“ (1929 ist hier noch immer zu hören, das laute „Rumms“ ist der Grundton der Hauptstadt geblieben. Besonders gut kann man sich auf die stillen Flaneure verlassen, auf Walter Benjamins Erinnerungen an die „Einbahnstraße“ (1928) und auf Franz Hessel und seine Beobachtungen beim „Spazieren in Berlin“ (1929). Sein kongenialer Nachfolger Heinz Knobloch hat sich im seinerzeitigen Ostberlin ausdrücklich auf „Spaziergänge wider die Vergessenheit“ begeben und „Berliner Grabsteine“ (1988) aufgesucht. Knoblochs „Wanderung zu Fontanes Grab“ gehört ebenso wie sein auf 30 Seiten verdichteter Zeitroman „Angehaltener Bahnhof“ (1984) weiterhin in die Lesebücher der Berliner Schulen, noch vor dem über fünf atemlose Seiten gehenden historischen Parforceritt „Romanisches Café“ (1971) von Wolfgang Koeppen über den Literatentreff der legendären Zwanziger Jahre am Kurfürstendamm. Der heimliche Klassiker aber ist Walter Kiaulehns einzigartige Studie „Berlin. Schicksal einer Weltstadt“ (1958), die mittlerweile in achter Aufl age vorliegt und liebevoll-kundig alles das erzählt, was wichtig war und ist in Berlin, von der „Schtulle“ bis zum Berliner Schloss, dem ausgerissenen „Herz“ der Stadt, das derzeit so wundersam wieder aufersteht.






Benns Tafeln

Anders als München, wo die Kulissen der Residenzstadt nach dem Zweiten Weltkrieg wieder so aufgebaut wurden, dass es vielerorts so aussieht, als wäre nichts geschehen, hat Berlin einen Großteil seiner alten Häusersubstanz unwiederbringlich verloren. Umso wichtiger sind gerade hier die literarischen Erinnerungen oder erinnerten Literaten. So wohnte beispielsweise Döblins Kollege, der Arzt und Lyriker Gottfried Benn, laut steinerner Gedenktafel, fast 20 Jahre bis zu seinem Tod 1956 im Bayerischen Viertel, Bozener Straße 20, parterre.

Der versierteste literarische Spaziergänger Berlins, Michael Bienert, entwarf den Text für eine gläserne Gedenktafel, die seit 2006 an dessen erster Hautarztpraxis und „Dichterwerkstatt“ in der früheren Belle-Alliance- Straße 12 (heute Mehringdamm 38) nahe dem Flughafen Tempelhof angebracht ist. Schwieriger ist das Ganze bei dem Erzähler Joseph Roth und seiner lebenslangen Sehnsucht nach dem untergegangenen Kakanien Österreich- Ungarn.

Chausseestraße, Dorothenstädtischer Friedhof: Die Gräber von Helene Weigel und Bertolt Brecht Wie später in Paris logierte Joseph Roth in Berlin, wie Bienert in seinem „Lesebuch für Spaziergänger“ (1996) festhält, jahrelang in Hotels und verfasste ausgerechnet im Bierdunst von „Mampes Guter Stube“ am Ku’damm 25 (heute 15), unweit des „Romanischen Cafés“, seinen grandiosen K.u.K.-Roman „Radetzkymarsch“ (1932). Nicht weit davon, wenn auch Jahrzehnte früher, tagte im Nollendorf-Casino, Kleiststraße 41, um 1910 der „Neue Club“ und das „Neopathetische Cabaret“ um Kurt Hiller und Georg Heym. Und wenn die jungen Dichter, anders als Heym, das Schlittschuhlaufen auf der Havel überlebten, fanden sie sich später alle wieder an der Ecke Ku’damm / Joachimsthalerstraße im „Café des Westens“, auch (als Schwabing- Import) „Café Größenwahn“ genannt. Hierhin trieb es Else Lasker-Schüler alias Prinz Jussuf, die später im Hotel „Koschel“ an der heutigen Motzstraße 7 (Gedenktafel) logierte und zum Glück vor dem „Abschaum der Generäle und Gauleiter“ (Brecht) nach Jerusalem entkommen konnte.






Parks und Gräber

Von den rund 20 Wohnungen Theodor Fontanes in Berlin ist heute keine mehr erhalten; sein Grab auf dem Friedhof der Französischen Reformierten Kirche war lange Zeit nur mit einem „Passierschein für einen vorübergehenden Aufenthalt im Schutzstreifen“ zu erreichen, für einen Totenort trotz aller politischen Willkür sicher auch angemessen. Fritz Cremer: Johannes Robert Becher (1976) im Bürgerpark Pankow Das Fontane-Denkmal im Tiergarten (1908, von Max Klein, einem Onkel Katia Manns) ist zwar nicht ganz so schön wie das Fontane-Denkmal in Neuruppin (Max Wiese, 1907), nordwestlich von Berlin. Dem Dichter und Chronist der „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ dient dafür das wichtigere Fontane-Archiv in Potsdam als feste Adresse. Seine letzten vier Lebensjahre verbrachte Joachim Ringelnatz in Charlottenburg am einstigen Sachsenplatz (heute Brixplatz); am Neubau Nr. 11 erinnert eine Marmortafel (1968) und am Eingang zum Park eine Bronzetafel (1981) mit einem Reliefporträt und den Anfangszeilen des Gedichtes „Am Sachsenplatz“ an den Dichter, der längst in einem Ehrengrab auf dem Friedhof Heerstraße an der Trakehner Allee 1 verschwunden ist. Besonders schön ist der Bürgerpark in Pankow. Dort kommt man durch das Parktor zu einer kleinen Bibliothek und danach zu gleich drei Dichterdenkmälern. Die Statue „Johannes Robert Becher“ (1976) von Fritz Cremer mit den Händen in den Hosentaschen war angeblich, wie Heinz Knobloch berichtet, seinerzeit den DDR-Oberen für das Kulturministerium zu salopp und musste daher nach Pankow ausweichen. Dort standen bereits die Heinrich-Mann-Büste aus Granit (1954) von Gustav Seitz und seit 1973 ein Ensemble von fünf Stelen für den 1943 in Plötzensee ermordeten tschechischen Journalisten und Schriftsteller Julius Fucík. Höhepunkt und Abschluss eines literarischen Spaziergangs in Berlin ist ein Besuch auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, direkt neben dem letzten Wohnhaus Brechts an der Chausseestraße 125. Der Augsburger mit österreichischem Pass hatte seit Ende 1949 mit dem „Berliner Ensemble“ ein Forum, das ihm wichtiger war als die Politiker, die sich mit seinem Namen schmückten. Gustav Seitz: Heinrich Mann (1954) im Bürgerpark Pankow Vielleicht wusste er auch darum, dass ihm nicht mehr viel Zeit bis zu seinem Tod im August 1956 beschieden war. Von seiner Wohnung aus sah er jedenfalls täglich von hüben nach drüben auf denjenigen Prominentenfriedhof, auf dem er sich, allen Gepfl ogenheiten zum Trotz, einen Platz hatte reservieren lassen. Hier wollte das sozialistische Regime eine Traditionslinie von den Philosophen Hegel und Fichte über Heinrich Mann und Brecht bis in die jüngste Gegenwart mit Heiner Müller und Jürgen Kuczynski ziehen. Doch schon bei den Gräbern von Brecht und Helene Weigel zeigt sich ein merkwürdiger Biedersinn. Sind die treuen Brecht-Komponisten Paul Dessau und Hanns Eisler noch in unmittelbarer Nähe zu fi nden, sehen sich die Brecht-Geliebten Ruth Berlau und Elisabeth Hauptmann in den entferntesten Winkel geradezu verbannt. Der Tod ist ein strenger Richter, aber letztlich entscheiden die Liebe und die Lieder, wer in Erinnerung bleibt und wer nicht.






Literaturhinweise

Michael Bienert, Literarisches Berlin (Stadtplan mit Booklet zu 100 Autoren), Verlag Jena 1800, 5. erweiterte Auflage, ISBN 978-3-931911-18-8, Euro 12,80 (D), Euro 13,20 (A)

Walter Kiaulehn, Berlin. Schicksal einer Weltstadt , Verlag C. H. Beck, 8. Aufl age, 595 Seiten, ISBN 978-3-406-41634-7, Euro 29,90 (D), Euro 30,80 (A)

Fred Oberhauser und Axel Kahrs, Literarischer Führer Deutschland , Insel Verlag, 1.469 Seiten, ISBN 978-3-458-17415-8, Euro 48,– (D), Euro 49,40 (A)

Von: Dirk Heißerer
Fotos: © Dirk und Milena Heißerer; Michael Bienert; fotolia.com